Zwischen Leben und Tod: Indie-Hit Spiritfarer im Test
Von Nick Schindowski
Spiritfarer heißt der Indie-Geheimtipp des kanadischen Entwicklerstudios Thunder Lotus Games. Seit seinem Release im Jahr 2020 löste das Spiel durchweg positive Resonanz aus. Was zunächst eine liebevolle Auseinandersetzung mit dem Thema Tod ist, entpuppt sich letzten Endes als hervorragende Vorbereitung auf das Leben.
In Spiritfarer schlüpfen die Spieler*innen in die Rolle von Stella und ihrem Kater Daffodil. Zu Beginn des Spiels erhält Stella das Immerlicht von Fährmann Charon, eine magische Lichtkugel, die ihr und Daffodil besondere Kräfte verleiht. Auch ihre Mission erbt sie von Charon: Stella soll Fährfrau werden und fortan die Seelen von Verstorbenen, die sogenannten Geister, auf ihrem Übergang in die Welt der Toten begleiten. Dafür restauriert Stella mithilfe ihrer alten Freundin Gwen eine große Fähre, mit der sie die fantastische Spielwelt von Spiritfarer erkunden und ihre neuen Gefährten beherbergen kann. Ihre Fähre navigieren die Spieler*innen durch eine friedvolle und fantastische Spielwelt, die neben den alles umspannenden Gewässern aus unzähligen Inseln besteht.
In seinen knapp 30 Spielstunden bietet Spiritfarer eine story-lastige und teilweise emotional aufrüttelnde Spielerfahrung, in der die Auseinandersetzung mit dem Tod im Zentrum steht. Wie Stella und Daffodils Mission vermuten lässt, entlassen die beiden Spielfiguren immer wieder lieb gewordene Charaktere an der Immerpforte in die Welt der Toten. Ihre Gäste finden sie dabei in der Spielwelt verteilt, wo die Spieler*innen zumeist eine Quest für sie lösen müssen, ehe sie sich der Reise anschließen. Einmal auf Stellas Fähre angekommen, verwandeln sie sich in liebevoll gezeichnete Tiergestalten. So ist Gwen als zugewandte und rauchende Hirschkuh dargestellt und später trifft das Immerlicht-Duo mit Astrid eine majestätische Löwin oder mit Atul eine aufgeweckte und warmherzige Kröte. Manchmal handelt es sich bei den Geistern auch um alte Bekannte von Stella, sodass wir aus den Dialogen Stück für Stück etwas über das Leben der ansonsten stillen Fährfrau erfahren. Sobald auf der Fähre vollends angekommen, kümmern sich Stella und Daffodil um die Bedürfnisse ihrer neuen Gäste. Dafür bauen sie ihnen einen besonderen Unterschlupf oder zaubern ihnen regelmäßig ihre liebsten Gericht in der Bordküche.
Der Tod als aufrüttelnde Erfahrung
Doch bis sich Stellas Passagiere selbstbestimmt für eine Reise zur Immerpforte entscheiden, haben sie meist großen Rede- und Handlungsbedarf. In teilweise sehr intimen Dialogen erzählen sie den Spieler*innen von ihren Lebensgeschichten, ihren vergangenen Freuden, verpassten Chancen oder geführten Kämpfen. Während ihres Aufenthalts auf Stellas Fähre äußern sie zudem wiederholt Wünsche an Stella in Form von Quests, die die Spieler*innen lösen müssen, um in der Story voranzuschreiten. Auf diese Weise lernen die Spieler*innen die Geistern kennen, die nicht nur liebevoll dargestellt sind, sondern auch eine große emotionale Tiefe aufweisen und gleichzeitig unterschiedlicher nicht sein könnten. Und doch müssen sie sich alle mit derselben Unausweichlichkeit des Lebens konfrontieren – dem Tod. So führt die letzte Reise, die Stella und Dafodil mit ihren Passagieren zur Immerpforte unternehmen, zu einer sehr schmerzvollen und aufrüttelnden Spielerfahrung, denn die nahbaren Charaktere aus Spiritfarer sind derart liebevoll geschrieben, dass sie den meisten Spieler*innen sehr schnell ans Herz wachsen dürften. In den Reisen zur Immerpforte wird dann genauso das emotionale Leitmotiv von Spiritfarer deutlich: der unvorhersehbare Schmerz, den man aufgrund des Ablebens einer liebgewonnenen Figur empfindet.
Anstatt sich nur mit den schmerzhaften Aspekten des Todes zufriedenzugeben,lotet Spiritfarer die verschiedenen Facetten dieser mit dem Tod verbundenen Gefühlswelten aus. Spiritfarer ist gelegentlich lustig, mal atemberaubend, geheimnisvoll und dann wieder zurückgezogen oder trist. Dies wird zum Beispiel an der vielseitigen Spielwelt deutlich, aber auch die unzähligen text-basierten Dialoge, durch die sich die Spieler*innen klicken müssen, bieten einen Grund für nahezu jede Gefühlslage. Hierbei stechen die Dialoge mit den gesichtslosen Nebencharakteren hervor, die die Spielwelt von Spiritfarer besiedeln. Überdies tragen die vielen Charaktere, die Stella und Daffodil auf ihrer Reise treffen, zu einer unbeschwerten Atmosphäre des Spiels bei. Da ist zum Beispiel der Schiffsbauer und Hai Albert, bei dem die Spieler*innen ihre Fähre verbessern und gleichzeitig seine misslungenen Wortwitze belächeln können. Aber auch die Wäschbaren, die mit ihrem Unternehmen Racoon Inc. alle Handelsstände der Spielwelt kontrollieren, erweisen sich als humorvolle Kritik an kapitalistische Monopolverhältnissen. Es ist die Liebe zum Detail, die die Entwickler*innen spürbar in jeden Zentimeter der offenen Welt getragen haben, die Story und Spielwelt zum Fundament einer außerordentlich tiefen Spielerfahrung verschmelzen lässt.
Von kreativen Managment-Mechaniken zum eintönigen Gameplay
Diese Liebe zum Detail macht sich auch in den abwechslungsreichen Spielmechaniken bemerkbar, die bei allen Fans von Management-Simulationen Begeisterung auslösen könnten. Denn um ihre Passagiere zu unterhalten, ihnen Unterkünfte zu bauen oder um die Seelenfähre zu verbessern, benötigen Stella und Daffodil Ressourcen, die sie meist von den Inseln der Spielwelt sammeln oder durch spektakulär animierte Minigames auf hoher See erringen können. Die Ressourcenpalette lässt sich dabei in vier Grundkategorien vereinfachen: es gibt Wolle, Hölzer, Steine und Metalle und schließlich Lebensmittel. Alle diese Ressourcen lassen sich zudem auf der Fähre von Stella weiterverarbeiten, insofern dafür schon das richtige Gebäude gebaut wurde. Wolle lässt sich zum Beispiel in einer Weberei erst zu Fäden, dann zu Stoffen spinnen und Baumstämme lassen sich in einer Sägerei zu Brettern schneiden. Darüber hinaus stechen vor allem die fantastischen Materialien wie die Glims hervor, die durch besonders spektakulär animierte Ereignisse an bestimmten Orten der Spielwelt gewonnen werden können. Für die Glims zum Beispiel müssen die Spieler*innen geschickt über ihre Fähre klettern, um einen der rot schimmernden Schwärme zu erreichen. Tatsächlich gibt es in Spiritfarer derart viele Items und findet man sich schnell an so vielen Baustellen wieder, dass das Spiel fast nie langweilig wird.
Die meiste Zeit des Spiels stellt dieser Ressourcenreichtum und die damit verbundene Abwechslung von Mini-Mechaniken ein vielseitiges und oft überraschendes Spielvergnügen her. In zweierlei Hinsicht kann hier jedoch Frust entstehen. Zum einen ist es teilweise sehr schwierig, herauszufinden, wo welche Ressource aufzufinden ist. Dies ist vor allem dann frustrierend, wenn davon der Spielfortschritt abhängt, etwa wenn man für eine Schiffsverbesserung Pulsarerz nötig hat, jedoch nicht weiß, wo das fantastische Metall zu finden ist. Hier fehlen in Spiritfarer Orientierungsmöglichkeiten, um sich im Reichtum der Items zurechtzufinden. Dies wäre zum Beispiel mit einer spielinternen Enzyklopädie einfach umsetzbar gewesen. Zum anderen führt der Ressourcenreichtum von Spiritfarer nicht immer zur erwarteten Abwechslung. Spätestens, wenn man zum gefühlt fünfhundertsten Mal Baumstämme zersägt, wird die zunächst interessante Steuerung der Mechanik lästig. Schlichtweg resultiert das sonst so abwechslungsreiche Gameplay phasenweise zum monotonen Grinden.
Nichtsdestotrotz profitiert Spiritfarer von seinen vielfältigen Spielmechaniken, denn bekanntlich lässt sich mit Online-Guides der Orientierungslosigkeit Abhilfe schaffen und so manchen bereitet das Grinden ja großes Vergnügen. Und wer dennoch mehr Abwechslung braucht, kann seine Zeit dem Erkunden der Spielwelt widmen, denn auch das ist in Spiritfarer eine sehr vergnügliche Erfahrung. Stella und Dafodil besitzen dank des Immerlichts besondere Fähigkeiten, die sie im Laufe des Spiels erlernen können. Besonders gelungen ist der Gleitsprung, mit dem sich das Fähr-Duo ähnlich wie in Zelda: Breath of The Wild von hoch gelegenen Abhängen stürzen oder sich durch Windturbinen in die Lüfte schießen kann. Weil es in der Spielwelt zudem immer wieder Abschnitte gibt, die die Spieler*in ausschließlich durch solche Fähigkeiten erreichen können, besitzen viele Insel auch einen großen Wiederentdeckungswert. Nachdem man eine neue Kartenregion entdeckt hat, findet das Spiel weiterhin auf der gesamten Karte statt, und der spielerische Reichtum scheint kein Ende nehmen zu wollen.
Die Auseinandersetzung mit dem Tod als Vorbereitung auf das Leben
Ob in Hinblick auf die Story oder auf die Spielmechaniken, Spiritfarer ist ein außerordentlich facettenreiches und überaus abwechslungsreiches Computerspiel. Doch das eigentliche Kunstwerk gelingt den Entwickler*innen mit der Art und Weise, wie sie Interaktivität und Narration miteinander verbinden. Dabei schwebt der Tod als zentrales Thema über der Spielerfahrung. Dies nicht als ultimative Drohung oder schreckenerregende Figur, wie wir ihn sonst aus der Popkultur kennen, sondern vor allem als die ungewisse Unausweichlichkeit, die er für uns alle nun einmal darstellt. Wir wissen nicht, was nach unserem Leben geschehen wird, aber wir sind uns sehr wohl im Klaren darüber, dass der Tod eine äußerst schmerzhafte und tragische Erfahrung sein kann, die uns allen begegnen wird. Die erste bedeutsame Leistung von Spiritfarer ist es, die Spieler*innen mit diesem emotionalen Erlebnis zu konfrontieren und dafür einen behüteten virtuellen Raum herzustellen, in dem Platz für eine große Bandbreite an Gefühlen ist. Hier können die Erfahrungen nicht nur gemacht, sondern beim Spielen tendenziell verarbeitet werden. Die Unterkünfte der begleiteten Geister verschwinden nicht nach ihrem Übergang und bleiben pflanzenbewachsen für immer ein Teil von Stellas Fähre und folglich stellen im Spiel einen Ort des Gedenkens her. Wer zudem Ruhe braucht, kann sich die Zeit mit dem Angeln beim Sonnenuntergang vertreiben und nicht zuletzt bieten die komisch-kuriosen Nebenquest ein willkommenes Gegengewicht zu den traurigen Erfahrungen der Hauptquests. Damit erinnern uns die Autor*innen aber auch an das, was latent in der Erfahrung des Todes enthalten ist und was in seiner Angesicht umso wertvoller erscheint: das Leben. Spiritfarer ist stellenweise emotional sehr aufrührend und kann Herzschmerz bereiten, doch hilft es den Spieler*innen ebenso, die Scherben ihres Herzens wieder zusammen zu kleben und daraus neue Kraft zu gewinnen.
Thunder Lotus gelingt mit Spiritfarer ein abwechslungsreiches und tiefes Spielerlebnis, dass über eine vielseitige Umsetzung bekannter Spielelemente hinaus vor allem als eine kunstvolle Vorbereitung auf ein Leben gelesen werden kann, von dem der Tod ein unausweichlicher Teil ist. Dass das Gameplay phasenweise monoton werden kann und es an wenigen Stellen an Orientierungshilfen fehlt, tat meiner durchweg gelungenen Spielerfahrung keinen Abbruch.