Verschwörungstheorien und Corona: Zwischen „Lügenpresse“, AfD, Fake News und einem veganen Koch
Von Elias Raatz
Gerade seit Beginn der Corona-Pandemie sind wir gefühlt täglich mit Verschwörungstheorien konfrontiert, die zeitweise auch ein hohes Medienecho genossen. Wir haben mit Prof. Dr. Michael Butter über die Frequentierung von Verschwörungstheorien, ihre Gefahr für die Demokratie und darüber gesprochen, ob Corona nun alles verändert.
Verschwörungstheorien sind derzeit in aller Munde und es könnte das Gefühl entstehen, dass man entweder selbst daran glaubt oder ständig darüber spricht. Vor allem zur Hochzeit der Hygienedemos mit Beginn der staatlichen Lockdown-Maßnahmen dachte der ein oder die andere, jetzt stünde ein neuer Hype der Verschwörungstheoretiker bevor. Doch wie stark ist die Frequentierung von Verschwörungstheorien überhaupt, ab wann sind sie eine Gefahr für unsere Demokratie und wie hat die Corona-Pandemie Verschwörungstheorien vielleicht auch verändert? Das weiß Prof. Dr. Michael Butter, Experte für Verschwörungstheorien und Populismus.
Herr Butter, in einem Ihrer Bücher haben Sie drei Grundregeln definiert, die eine Verschwörungstheorie ausmachen: „Nichts geschieht durch Zufall“, „Nichts ist, wie es scheint“ und „Alles ist miteinander verbunden“. Gibt es dafür ein gutes Beispiel?
Michael Butter: Eine der bekanntesten Verschwörungstheorien sind die Anschläge vom 11. September 2001 auf das World Trade Center. Die offizielle Version würde nie behaupten, dass die Einstürze der Twin Towers und des dritten Gebäudes, World Trade Center 7, geplant waren, sondern dass hier Zufälle im Spiel waren. Sie würde auch nicht behaupten, dass es Ziel Osama bin Ladens war, zum Einmarsch der US-Truppen im Irak beizutragen.
Die inoffizielle Version, also die Verschwörungstheorie, behauptet aber all das: Es gibt überhaupt keinen Zufall und es ist wirklich alles geplant, denn die Twin Towers sollen ja angeblich gesprengt worden sein. Dazu ist alles miteinander verbunden, was man sonst eventuell nicht miteinander verbinden würde, also beispielsweise der Krieg im Irak und der Anschlag auf das World Trade Center, und nichts ist, wie es scheint, denn für den Anschlag waren keine islamistischen Terroristen verantwortlich, sondern die US-Regierung selbst.
Ich habe gehört, dass bei sehr abstrusen Verschwörungstheorien der Begriff „Theorie“ gar nicht passend sei. Andere sprechen von Verschwörungsideologie oder Verschwörungsmythos. Wie sehen Sie das?
Ich spreche immer von Verschwörungstheorie, weil es der praktischste und international anerkannteste Begriff ist. Deutschland scheint das einzige Land zu sein, in dem diese Begriffsdiskussion geführt wird. Der Begriff ist auch angemessen, weil Verschwörungstheorien viel mit Alltags- und auch wissenschaftlichen Theorien gemeinsam haben. Sie machen eine bestimmte Zahl miteinander vernetzter Grundannahmen, über die wir gerade gesprochen haben, und versuchen auf deren Grundanlage Wissen über die Welt zu generieren. Nur weil diese Grundannahmen nicht stimmen und die Welt nur inadäquat erfassen, macht das Verschwörungstheorien nicht automatisch zu etwas, das keine Theorien sind.
Michael Butter ist deutschlandweit einer der führenden Forscher zu den Themen Verschwörungstheorien und Populismus. Der Professor für amerikanische Literatur- und Kulturgeschichte an der Universität Tübingen veröffentliche 2018 das Buch „Nichts ist, wie es scheint“, eine deutschsprachige Einführung in das Thema. Neben weiterer Forschungsinteressen ist er stellvertretender Vorsitzender der COST-Action „Vergleichende Analyse von Verschwörungstheorien“ und Leiter des vom Europäischen Forschungsrat finanzierten Projekts „Populismus und Verschwörungstheorie“.
Sie sprechen davon, dass wir durch das Internet derzeit eine „Renaissance der Verschwörungstheorien“ erleben: Was sich bis in die 90er-Jahre in abgeschlossenen Subkulturen abgespielt hat, ist heute sichtbar und für jeden verfügbar geworden…
Genau. Subkulturen werden zu Gegenöffentlichkeiten, die für andere beobachtbar sind. Das erklärt vielleicht die Panik, die gegenüber Verschwörungstheoretikern vorherrscht. Sie waren immer da, nur nicht so sichtbar. Diese Sichtbarkeit und Verfügbarkeit bedeuten aber auch, dass alternative Erklärungen viel leichter auffindbar sind als noch vor 30 oder 40 Jahren. In diesem Zusammenhang hat die Zahl der Verschwörungstheoretiker auch wieder leicht zugenommen.
Auch sehen wir durch das Aufkommen der sozialen Medien, insbesondere von Twitter, in den letzten Jahren eine Entwicklung von Verschwörungstheorien hin zu Verschwörungsgerüchten. Das Gesagte wird gar nicht mehr belegt, sondern nur noch die Behauptung rausgehauen. Das Internet beeinflusst also nicht nur die Zahl der Leute, die an Verschwörungstheorien glauben, sondern auch die Form, in der sie mittlerweile zirkulieren.
Ja, die Themen Chemtrails oder Reptiloide gibt es schon einige Jahre. Neu ist, dass sich seit der Corona-Pandemie immer mehr Menschen des öffentlichen Lebens zu Verschwörungen bekennen, sei es irgendein Sänger aus Mannheim oder ein veganer Koch. Sehen Sie da einen, vielleicht auch beängstigenden, Trend?
Nein, eigentlich nicht. Wenn wir nach aktuellen Studien davon ausgehen, dass ein Viertel bis ein Drittel der Deutschen eine Tendenz zu Verschwörungstheorien hat, dann müssten sogar noch mehr Prominente Verschwörungstheoretiker sein. Die meisten wissen aber, dass sich damit eher schaden als helfen.
Der Koch gewinnt vielleicht auf Telegram viele Follower, aber ich glaube, in Fernsehsendungen wird der nicht mehr auftreten. Und beim Sänger aus Mannheim wissen wir schon seit Jahren, dass er Verschwörungstheorien glaubt, nur jetzt scheint eine Grenze überschritten. Dass diese Prominenten durchaus Reichweite haben, darf man nicht unterschätzen, aber sie sind bei Verschwörungstheorien weniger Motor und eher Spiegel der Gesellschaft.
Sie haben zum Zusammenhang zwischen Populismus und Verschwörungstheorie geschrieben, dass die weitere Verbreitung von Verschwörungstheorien auch mit dem Erstarken populistischer Bewegungen zusammenhängt. Alice Weidel (Vorsitzende der AfD) war Ende Mai in Stuttgart auf einer Hygienedemo – ist das ein Praxisbeispiel?
Auf jeden Fall. Wir wissen, dass in praktisch allen populistischen Bewegungen Verschwörungstheoretiker und Nicht-Verschwörungstheoretiker in einer Praxis des Protestes vereint sind. Das bedeutet, dass die Führungsfiguren populistischer Bewegungen immer wieder versuchen, Verschwörungstheorien zwar nicht zu offensiv zu bedienen, aber dennoch Signale abzusenden, die den Verschwörungstheoretikern suggerieren, dass sie dieselbe Meinung haben.
Dieselbe Meinung haben sie auf jeden Fall in Bezug auf etablierte Medien: der „Lügenpresse“ wird nicht vertraut. Wie kommen denn diese „Systemmedien“, insbesondere der öffentlich-rechtliche Rundfunk, mit der Berichterstattung über Verschwörungstheoretiker klar?
Generell muss man sagen, dass die Berichterstattung über Verschwörungstheorien in den letzten Jahren viel besser geworden ist, weil man mehr mit Experten gearbeitet hat und von der Idee weggekommen ist, dass Verschwörungstheoretiker alle irre sind. Gleichzeitig wird das Thema nicht mehr so sensationell bedient, wobei einer rationalen und kühlen Aufklärung meist die kapitalistisch geprägte Logik der Medien entgegensteht, Ausgaben zu verkaufen oder Klicks generieren zu müssen.
Ich hätte mir zu Anfang der Coronakrise etwas mehr Unaufgeregtheit gewünscht. Beispielsweise hätte man sich als die Hygienedemos losgingen fragen können, ob diese Menschen nicht schon früher an Verschwörungstheorien geglaubt haben und nur jetzt erstmals auf die Straße gegangen sind.
Verschwörungstheorien finden immer mehr Anhänger, die „Lügenpresse-Rufe“ werden lauter, Fake-News immer besser sowie glaubhafter und einzelne Teilöffentlichkeiten glauben ihre eigene Wahrheit. Ab wann sind solche Theorien und ihre Anhänger eine Gefahr für unsere Demokratie?
Ich glaube, wir sind in Deutschland noch in einer ganz komfortablen Situation. Man müsste sich vielleicht Sorgen machen, wenn nochmals weitere circa 15% der Bevölkerung an Verschwörungstheorien glauben würden. So wie beispielsweise in den USA, wo die Hälfte aller Menschen mindestens einer Theorie glaubt. Dort kommt zur Trennung Verschwörungstheoretiker / Nicht-Verschwörungstheoretiker noch die Trennung Republikaner / Demokrat dazu, die ein bisschen quer daneben läuft. Das politische System ist dadurch handlungsunfähig geworden, was sich auch nach den nächsten Wahlen nicht ändern wird.
Es ist wichtig, dass es in Deutschland noch einen sehr breiten gemeinsamen Konsens gibt, beispielsweise dass es einen menschengemachten Klimawandel gibt. Solange wir diesen Konsens haben, sehe ich noch keine Gefahr für unsere Demokratie, auch wenn man manche Leute hat, die man im demokratischen Prozess einfach nicht mehr mitnehmen kann.
Haben Sie zum Abschluss noch drei Tipps für mich, was ich gegen Verschwörungstheorien machen kann?
Ich glaube zuallererst einen kühlen Kopf bewahren und Nachrichten checken, bevor man sie weiterleitet. Zum anderen das Gespräch mit Verschwörungstheoretikern suchen: Wenn die überzeugt von ihren Theorien sind, lassen sie sich durch Fakten schlecht überzeugen, aber man kann vor allem Fragen stellen, zum Beispiel „Warum glaubst du das?“ Und das führt zumindest dazu, dass diese Menschen sich wahrgenommen fühlen, denn Machtlosigkeit und das Gefühl, übersehen zu werden, ist ein Faktor, der den Glauben an Verschwörungstheorien befeuert.
Bei Menschen, die noch nicht völlig überzeugt sind, kommt man mit Fakten auch durchaus weiter, da bringt es auch etwas, zu argumentieren. Und Drittens kann man, wenn man sich wie Sie schon ein wenig mit damit beschäftigt hat, über das Funktionieren und die Argumentationsstrategien von Verschwörungstheorien informieren, denn Aufklärungsarbeit ist vor allem hier immens wichtig.
Ein Fazitversuch
Die ganze Thematik der Verschwörungstheoretiker scheint nicht allzu schlimm zu sein, wie uns deren Medienecho manchmal glauben lässt. Dennoch zeigen beispielsweise die USA, was passieren kann, wenn immer mehr Menschen an Verschwörungstheorien glauben.
Was denkt ihr: Sind Verschwörungstheoretiker absolut ungefährlich oder sehen wir Attila Hildmann und Xavier Naidoo bald auf Blauschimmeln reitend den Reichstag stürmen? Schreibt uns!