Mut zur Lücke, Mut zur Stille – Mut zur mangelnden Romantik
von Kathrin Piecha
Ein Liebesfilm ohne Romantik? In Hollywood undenkbar, im sonst so verträumten Frankreich jedoch realisiert. Mit seinem neuesten Werk Der Geschmack von Rost und Knochen kreiert Jacques Audiard eine Romanze, die vollkommen ohne Kitsch, vielsagende Blicke und Schmetterlinge im Bauch auskommt – eine wahre Herausforderung für unser Empathie-Empfinden.
Jacques Audiard zeigt mit seinem neuesten Werk Der Geschmack von Rost und Knochen (Originaltitel: De rouille et d’os) völlig nüchtern und schmucklos die Realität zweier, vom Leben gepeinigter Charaktere, die auf erstaunlich dramatische, und doch unverblümte Art und Weise zueinander finden.
Fernab von Glück und Harmonie
Ali (Matthias Schoenaerts) zieht Zuflucht suchend mit seinem kleinen Sohn Sam in den Süden Frankreichs nach Antibes an der Côte d’Azur zu seiner Schwester Anna (Corinne Masiero). Dort nimmt er Gelegenheitsjobs an, vergnügt sich mit Frauen und kümmert sich (wenn überhaupt) sporadisch um seinen Sohn. Er lebt in den Tag hinein, übernimmt keinerlei Verantwortung und beginnt des Geldes wegen an illegalen Straßenkämpfen teilzunehmen.
Stéphanie, gespielt von Oscar-Preisträgerin Marion Cotillard, ist Waltrainerin, die voller Leidenschaft ihrem Beruf nachgeht und selbstbewusst auftritt – bis zu dem Tag, an dem sie bei einer Orca-Show durch einen Unfall beide Unterschenkel verliert.
Apathie auf den ersten Blick
Die erste Begegnung beider Charaktere läuft anders ab, als erwartet: Nüchtern. Es funkt nicht zwischen den beiden. Stéphanie und Ali begegnen sich zum ersten Mal (noch vor Stéphanies Unfall) in einem Club. Ali arbeitet dort als Türsteher und hilft Stéphanie, die in eine Schlägerei verwickelt ist. Er fährt sie nach Hause, steckt ihr seine Nummer zu – lediglich auf ein sexuelles Intermezzo aus – doch Stéphanie zeigt keinerlei Interesse. Umso überraschender, dass sie gerade ihn mehrere Monate nach dem Unfall anruft; nach Monaten voller Lethargie, Resignation und Einsamkeit. Die beiden verabreden sich und plötzlich scheint Stéphanie wieder an Lebenslust zu gewinnen. Ali geht mit ihr nach draußen, an die frische Luft und an den Strand, was sie nach vorangegangener Isolation sichtlich zu genießen scheint. Dabei begegnet er ihr förmlich ignorant was ihr Handicap anbetrifft, er hilft ihr nur, wenn sie ihn auch darum bittet. Alis Stumpfsinnigkeit und sein oftmals verantwortungsloses Handeln kommen Stéphanie nur zugute, da sie sich zu keiner Sekunde bemitleidet fühlt. So verbringen sie viel Zeit gemeinsam, schlafen miteinander und scheinen sich langsam einander anzunähern, bis es zu einer Auseinandersetzung zwischen Ali und seiner Schwester kommt, die ihn daraufhin aus der Wohnung schmeißt.
Ali macht sich wortlos aus dem Staub, lässt seinen Sohn und Stéphanie zurück und beginnt, hart für die illegalen Straßenkämpfe zu trainieren. Nach einiger Zeit besinnt er sich und möchte seinen Sohn Sam wiedersehen. Bei einem gemeinsamen Vater-Sohn-Tag kommt es dann jedoch zu einem unerwarteten Unglück: Sam bricht in einen eingefrorenen See ein und droht zu ertrinken. Erstmals zeigt Ali wahrhaftige Emotionen. Verzweifelt versucht er seinen Sohn zu befreien, der unter der dicken Eisdecke eingeschlossen ist – ein Ereignis, das dem Film, aber vor allem Alis Charakter, eine völlig neue Wendung gibt…
Romantik für Fortgeschrittene
Jacques Audiard kreiert mit seinem Werk Der Geschmack von Rost und Knochen einen Film, der grob gesagt in jeder Hinsicht allen Liebesfilm- Klischees widerspricht. Die erste Begegnung der beiden Protagonisten läuft wie erwähnt recht nüchtern ab, keine vielsagenden Blicke, keine zwischenmenschlichen Spannungen, keine Schmetterlinge im Bauch. Ebenso unverblümt wie bedacht undramatisch führt Audiard den Film fort, wodurch viel emotionales Potential ungenutzt auf der Strecke bleibt. Doch eben dies macht den Film aus. Man könnte es als den „Mut zur Lücke“ bezeichnen: In Szenen, aus denen manch ein anderer Regisseur mit großen Eimern Dramatik schöpfen würde, lässt Audiard den Zuschauer mit wenigen, stillen und dennoch einprägsamen Bildern regelrecht allein. So beispielsweise auch bei Stéphanies Unfall. Schnelle hektische Momentaufnahmen münden plötzlich in ruhigen Unterwasseraufnahmen, sodass unklar bleibt, was genau geschehen ist. Mit sanfter Klaviermusik untermalt, sieht der Zuschauer lediglich, wie Trümmer ins Wasser stürzen und sich langsam und zaghaft Blut im Becken ausbreitet. Und dann plötzlich Stille. Kein Geräusch, keine Hintergrundmusik, nur wirre Bilder. Jacques Audiard erzeugt an dieser Stelle mutig einen Moment, wie man ihn nur selten erlebt – ein Moment, der sicherlich jedem Zuschauer besser im Gedächtnis bleiben wird als völlig bild- und tonüberladene Hollywood-Szenarien, die vor lauter Sensationslust und Dramatik nur so strotzen.
Ebenso enthält der Film keinerlei romantische Szenen im klassischen Sinne, keine Liebesfloskeln und keinen Kitsch. Der Zuschauer muss vielmehr selbst die undurchsichtige Beziehung zwischen Ali und Stéphanie durchdringen, das Leid beider verstehen und aufmerksam beobachten, wie sich beide Charaktere gegenseitig Kraft schenken (Ali bestärkt nicht nur Stéphanie darin, trotz Handicap ein lebenswertes Leben zu führen, Stéphanie unterstützt auch Ali bei seinen Straßenkämpfen durch ihre bloße Anwesenheit und wird sogar seine „Managerin“).
Ali am ewigen Wendepunkt
Ein kleines Manko bleibt jedoch erwähnenswert: der unzugängliche Charakter Alis. Mehrmals im Film scheint dieser endlich an einen Wendepunkt gekommen zu sein, enttäuscht dann jedoch wieder durch sein altes Verhaltensmuster, durch Verantwortungslosigkeit, Rücksichtslosigkeit und mangelnde Empathie. Das macht seine Person für den Zuschauer unverständlich – was an sich nicht weiter schlimm wäre. Allerdings zieht sich sein Selbstfindungsprozess bis ins Unendliche, zumindest scheint es so. Und was gibt es wohl unerfreulicheres für einen Zuschauer, als einen nervenden Protagonisten?
Fazit
Mit Der Geschmack von Rost und Knochen inszeniert Jacques Audiard allemal einen Liebesfilm, der erst auf den zweiten Blick durch Eigenleistung und Interpretationsfähigkeit der Zuschauer Romantik verspricht. Audiard verzichtet dabei auf überschwängliches Gefühlskino à la Hollywood und ermöglicht damit ein wahrhaft realitätsnahes Kinoerlebnis, das vor allem eine Frage beantwortet, nämlich die, wie bitter-süß Rost und Knochen schmecken können.
DER GESCHMACK VON ROST UND KNOCHEN, Frankreich, Belgien 2012 – Regie: Jacques Audiard. Buch: Jacques Audiard, Thomas Bidegain. Kamera: Stéphane Fontaine. Mit: Marion Cotillard, Matthias Schoenaerts, Bouli Lanners. 122 Min.
Bilder: FilmPressKit
Hinterlasse einen Kommentar
An der Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns deinen Kommentar!