Investigative Journalist*innen müssen oft “Detektiv*in” spielen, um Antworten auf ihre Fragen zu finden.
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Investigativer Journalismus als Aufklärungsinstrument?

Von Vincenzo Termini

Sherlock Holmes, Die drei ??? oder Conan Edogawa. Wer diese Namen liest, der denkt wahrscheinlich direkt an Detektive. Einer heißen Spur folgend, Rätsel lösend und mit dem Sinn nach Gerechtigkeit, klärten die oben genannten Figuren – auch wenn sie alle fiktiv sind – viele Verbrechen und mysteriöse Fälle auf.
In der Realität sehen Detektive etwas anders aus. Doch soll es in diesem Artikel um eine bestimmte Art von Detektiven gehen: investigative Journalist*innen. Dafür müssen wir uns aber von unserem vertrauten Bild von Detektiv*innen mit Lupe und Mantel verabschieden.

Was ist investigativer Journalismus?

“[…] someone told me that a reporter is the person chosen by the tribe to enter the cave and tell them what lies within. If a furious storm is raging, the tribe might find safety and warmth. But if the reporter does not go deep enough, a dragon might await them, and all could perish.”

romantisierte Pete Hamill – im Vorwort des Buches „Undercover Reporting – The Truth about Deception“ (2012) von Brooke Kroeger – über Reporter*innen. Natürlich werden Reporter*innen nicht auf Drachen treffen. Im nächsten Satz beschreibt Hamill, er habe diese Vorstellung nur im jungen Alter gepriesen, mit dem Älterwerden jedoch erkannt, dass der “Drache“ oft in vielen Gesichtern kommt – und immer in Gestalt eines Menschen.
Es ist vor allem der letzte Satz, der die Arbeit investigativer Journalist*innen gut beschreibt. Immer weiter, immer tiefer, bis man absolute Sicherheit in einem Thema besitzt. Die Definition von “Investigativem Journalismus”‘ ist nicht klar. Einig sind sich die meisten Definitionen darin, dass investigativer Journalismus Themen von enormer sozialer oder gesellschaftlicher Relevanz bearbeitet. Die Ergebnisse basieren auf gründlicher Recherche von, vor allem Informationen, die nicht jedermann zugänglich sind. Vereinzelt ist noch die Rede von der Funktion, „Politik und Wirtschaft quasi zu überwachen“. In der Boulevardpresse bedeutet investigativer Journalismus, das Aufdecken von Skandalen der Promis – jedoch ist diese Definition für das weitere Verständnis irrelevant.

Verdeckte Recherche: Günter Wallraff zeigt wie es gehen kann

Die bekannteste Methode investigativ zu arbeiten, ist die verdeckte Recherche. Hierzulande stößt man in diesem Kontext auf den Namen „Günter Wallraff“, nennt diese Methode sogar „Walraff-Methode“. Am 29. September 2022 enthüllte er auf RTL den „Burger King Skandal“, den er gemeinsam mit seinem Team aufbereitete. An diesem Beispiel wird deutlich, wie verdeckte Recherche funktionieren kann. Wallraff infiltrierte ein paar seiner Mitarbeiter in verschiedene Burger King Standorte und ließ diese dort, mit Einsatz von versteckten Kameras, arbeiten und dokumentieren, was sie erlebten. Um von Stichprobenartigen Ergebnissen wegzukommen, interviewte Wallraff anonym und deutschlandweit Mitarbeiter von Burger King. Diese Informationsquellen aus erster Hand nennt man auch „Whistleblower“. Bei ihnen handelt es sich meistens um Mitarbeiter*innen von Unternehmen oder Personen, die in bestimmte Prozesse stark integriert sind. Sie berichten dann über eigene Erfahrungen bis hin zu (Betriebs-)Geheimnissen, die zur Aufklärung einer gewissen Thematik dienen. In diesem Prozess verraten sie ihre Arbeitsstelle oder Organisation, weshalb sie – wie auch beim Burger King Skandal – meistens anonym bleiben. Einer der bekanntesten Whistleblower ist beispielsweise Edward Snowden.
Brooke Kroeger beschrieb die verdeckte Recherche in ihrem Buch als Bruch der Normalität. Reporter*innen nehmen nicht mehr Block, Stift und Kamera mit. Sie reagieren auf einen neuen Namen. Sie umgehen jegliche unangenehme Situation, die sie auffliegen lassen könnten. Dazu mussten sie sich anpassen und natürliches Verhalten internalisieren. Aber das sind nur wenige der vielen Fähigkeiten, die investigative Journalist*innen brauchen. Vor allem brauchen sie Geduld. Die Recherchen können mehrere Monate, sogar Jahre andauern.

Grenzen bei der investigativen Arbeit

Investigativer Journalismus ist nicht ganz ungefährlich. Oftmals müssen Reporter*innen mit einer Klage rechnen, wenn sie ihre Arbeit vollendet haben. Rechtlich gesehen verbietet kein Gesetz eine investigative Recherche. Im Pressekodex steht jedoch, dass Journalist*innen sich immer auch als solche zu erkennen geben müssen. Verdeckte Recherche ist laut Pressekodex nur dann gerechtfertigt, wenn sie die einzige Möglichkeit zur Gewinnung wichtiger Informationen für das öffentliche Interesse darstellt. Auch moralische und ethische Grenzen sollten dabei eingehalten werden. Privatsphäre sollte bestmöglich gewährleistet werden. Eine Ausnahme dafür kommt selten vor. So zum Beispiel die Ibiza Affäre, die zum Regierungsbruch 2019 in Österreich führte. Dabei überwog die Relevanz für die Öffentlichkeit, der Bewahrung der Privatsphäre.
Klaus Ott von der Süddeutschen Zeitung stellte für sich auch klare Regeln in seiner Arbeit. In einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur erzählt er, dass er keine künstlichen Szenarios als Falle benutzen würde. Auch sieht er von verdeckter Recherche weitestgehend ab, außer die Situation lässt es nicht anders zu. Geld für Informationen würde er auch nicht zahlen, solange es ohne funktioniert. Auch Lea Busch von Strg_F und Panorama berichtete im gleichen Interview über ihre Grenzen. Sie frage sich bei ihrer Arbeit immer, ob das öffentliche Interesse einen solch schweren Eingriff rechtfertige. Auch möchte sie mit jedem fair umgehen. Gesetzliche Grenzen sollen keinesfalls überschritten werden.
Investigative Journalist*innen spielen also oft mit dem Feuer um Missstände aufzuklären. Am Beispiel der Ibiza-Affäre sieht man das Potential von Investigativem Journalismus: Der Fall einer ganzen Regierung.

Jan Böhmermann und die geheimen Akten über die NSU

Am 28. November 2022 trauten sich Jan Böhmermann und sein Team vom ZDF Magazin Royale, geheime Akten des Verfassungsschutzes Hessen hochzuladen und für jedermann zugänglich zu machen.
Sie werfen dem Verfassungsschutz Hessen vor, Akten zum Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) vernichtet zu haben – mit Decknamen Lothar Lingen. Dabei gingen etwa 541 Akten verloren. Jedoch sollen davon 200 wieder aufgetaucht sein. Auslöser dieser Aktion waren Selbstmorde von NSU-Terrorist*innen, die sich schriftlich zu Morden in Hessen bekannten.
2012 erteilte der damalige Innenminister Boris Rhein den geheimen Auftrag, alle noch existierenden Akten zu Rechtsextremismus aus 20 Jahren Vergangenheit zu untersuchen. Das Ergebnis dieser Untersuchungen sollte bis 2134 geheim bleiben – später auf 2044 verkürzt. Der Grund dieser Geheimhaltung sei eine tabellarische Liste gewesen sein, die Namen von Neonazis enthält. Diese haben den Verfassungsschutz mit Informationen beliefert und sollten daher bis in die Generation ihrer Enkel geschützt werden.
Auf der Gegenseite verlangen vor allem die Familien der Opfer Einsicht in die Akten. Sie hoffen dort auf Antworten, wie und warum ihre Familienmitglieder Opfer der Gewalttaten der NSU wurden.
Doch was genau steht in den NSU-Akten drin? Was macht sie so besonders? In der vom ZDF eingerichteten Website “nsuakten.gratis” folgt auf diese Frage folgende Antwort:

“Was kaum vorkommt in den „NSU-Akten” ist der NSU. Wer hofft, in diesen Berichten die Antwort auf offene Fragen zum NSU, Beweise für gezielte Vertuschungsversuche oder gar den Beleg für die Rolle des Verfassungsschutzes bei der Mordserie zu finden, wird enttäuscht.”

Eher wird über die Arbeit des Verfassungsschutzes zum NSU berichtet – jedoch durch die Aktenvernichtung nicht ausführlich. Der Inhalt lässt nicht nur bei Jan Böhmermann und seinem Team Zweifel aufkommen. Sie kommen zu vielen Ergebnissen. Unter anderem, dass der Verfassungsschutz erhaltene Informationen nicht konsequent genug verfolgt habe. Im Gegenteil berichtet Jan Böhmermann in der dazugehörigen Ausgabe des ZDF Magazin Royale, wie der Verfassungsschutz in Thüringen NSU-Mitglieder nicht nur bezahlte und auch finanziell unterstützt haben soll. Sie warnten angeblich ihre Vertrauenspersonen (V-Personen) sogar vor der Polizei und schützten diese damit. Bei einer der V-Personen handle es sich um Thilo Brandt, der zu Anfangszeiten des NSU als sehr radikaler Neo-Nazi galt. Dass der Verfassungsschutz auf Bundesebene so gehandelt haben könne, bleibt zu vermuten.
Jan Böhmermann bewertet die Geheimhaltung der Akten, als Akt um die Inkonsequenz und teilweise Inkompetenz des hessischen Verfassungsschutzes zu vertuschen.

Fazit

Der Fall der NSU-Akten zeigt vor allem eins: Wenn es um (gerechte) Aufklärung geht, die eine ganze Gesellschaft oder eine Nation betrifft, macht investigativer Journalismus keinen Halt – nicht einmal vor staatlichen Institutionen. Selbst in einer Demokratie und angebliche funktionierender Gewaltenteilung in Exekutive, Legislative und Judikative, wie wir es in Deutschland haben, wird dem Volk wichtige Information vorenthalten. Wenn das der Fall ist, bleibt nur noch der investigative Journalismus als Aufklärungsinstrument übrig, der das Wohl einer Gesellschaft über das Wohl einflussreicher Personen stellt. Der mit dem Finger auf Schuldige zeigt und keinen Euphemismus verwendet um Aktionen zu rechtfertigen.
Ganz egal, ob es nun um mangelnde Hygienevorschriften bei Burger King oder um das Versagen eines Verfassungsschutzes geht, hilft der investigative Journalismus ungemein bei der Aufklärung von Ungerechtigkeiten. Dabei listet er nicht nur diese Ungerechtigkeiten auf, sondern setzt sich ebenfalls mit der Frage auseinander, wie es zu diesen Umständen kommen konnte.
Abschließend soll ein Zitat des, am Anfang genannten “Detektiv Conan”, den Geist des investigativen Journalismus wiederspiegeln:

“Es gibt immer nur eine Wahrheit und ich finde sie!”