Donna Haraway: Die Verwischung der Grenzen und Geschichten für eine Welt, in der man gerne leben möchte
Von Hannah Helfferich
Theorie soll grau und langweilig sein? Da würde ich dagegenhalten und deshalb möchte ich in diesem Beitrag eine meiner Lieblingstheoretiker*innen vorstellen und auch zeigen, warum sie gerade hier, auf einem Medienkritischen Blog, ihren Platz verdient hat. Denn Donna Haraway ist Grenzenverwischerin, Hinterfragerin und Erzählerin von neuen Geschichten, mit dem Ziel eine bessere Welt für alle Wesen, aber auch nicht-Wesen zu erschaffen. Klingt alles andere als grau- oder?!
Auf Donna Haraway bin ich zum ersten Mal in einer meiner Vorlesungen gestoßen und war sofort hin und weg. Mit ihr, so fand ich, eröffnete sich eine völlig neue Welt, da sie es ermöglicht, unsere Welt als eine gemachte Welt zu erkennen, sie zu dekonstruieren und im gleichen Atemzug eine Stimme für Veränderung zu finden. Denn mit Haraway werden Grenzen nicht nur niedergerissen, sondern sie plädiert auch dafür Verantwortung für die Welt zu übernehmen, in der wir leben wollen.
In diesem Blogbeitrag möchte ich deshalb ihre Theorie in Ansätzen vorstellen und zeigen, dass diese hinterfragende und gleichzeitig verantwortungsbewusste Perspektive auch für medienkritische Überlegungen genutzt werden kann.
Maschinen und Menschen begegnen sich und Grenzen werden verwischt
Das erste Werk, welches ich von ihr gelesen habe, ist Haraways Essay „Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften“ (Haraway 1995). In diesem geht es um die Verwischung der Grenzen zwischen Maschinen und Menschen und wie diese dazu genutzt werden kann, uns selbst neu zu erfinden (vgl. Haraway 1995, S.35).
„Dieses Essay ist ein Plädoyer dafür, die Verwischung dieser Grenzen zu genießen und Verantwortung bei ihrer Konstruktion zu übernehmen“(ebd.).
Laut Haraway würden die neuen technologischen Errungenschaften viele unserer alltäglich für selbstverständlich gehaltenen Dualismen, wie beispielsweise den Dualismus Mensch/Maschine verunsichern (vgl. ebd., S.67). So gibt es zum Beispiel Menschen wie Moon Ribas, oder Neil Harbisson, die sich selbst als Cyborg bezeichnen (vgl. Loh 2018, S.60f.). Der von Geburt an farbenblinde Harbisson trägt ein Sensor an seinem Kopf, welcher es ihm ermöglicht Farben zu hören, und die Künstlerin Ribas trägt mehrere Implantate, welche sie seismische Schwingungen spüren lassen, welche sie dann in Performances verarbeitet (vgl. ebd.).
Befreiung von Dualismen
Die Frage: „Wo hört der Körper auf und wo beginnt die Maschine?“ scheint in diesem Zusammenhang nicht mehr so einfach beantwortbar zu sein. Doch die Verwischung der Grenzen, welche Haraway so begrüßt, geht noch weiter. Betrachtet man beispielweise Roboter wie ICub, welcher durch Beobachten und Nachahmen lernen soll und aussieht wie ein Kind (Eberl 2019, S.39). Können wir da noch so einfach zwischen Mensch und Maschine, Subjekt und Objekt unterscheiden? Eine Unterscheidung, die uns doch sonst eher leichtgefallen ist und beinahe natürlich wirkte.
In diesem Zuge entwirft Haraway den Mythos der Cyborg, der von „[…] überschrittenen Grenzen, machtvollen Verschmelzungen und gefährlichen Möglichkeiten […]“ (Haraway 1995, S.39) handelt und uns helfen soll, uns von den Dualismen und Grenzen zu befreien, in welchen wir uns unsere Körper und uns selbst erklärt haben (ebd. S.72). Es geht Haraway also darum, dass Grenzen, die wir für gottgegeben oder natürlich halten, dies eigentlich nicht sind und die Verwischung der Grenzen (zum Beispiel zwischen Menschen und Maschinen) eine Chance ist, das zu erkennen (ebd., S.65). Bezogen auf Medien könnte dies bedeuten, dass man sich zum Beispiel fragen könnte, wie diese mit unhinterfragten Grenzziehungen umgehen oder auch damit, dass diese Grenzen verwischt werden.
Neue Geschichten für eine neue Welt voller Verantwortung und Verbundenheit
Doch nun wird es erst richtig spannend, denn Haraway setzt sich nicht nur für die Dekonstruktion bereits etablierter Grenzen ein, sondern vor allem für eine verantwortungsbewusste Neukonstruktion dieser Grenzen (vgl. ebd., S.35). Dabei schreibt Haraway vor allem auch aus einer feministischen Perspektive, da Frauen, wie auch alle anderen, die als Andere konstituiert würden (Haraway nennt hier vor allem auch farbige Menschen, Natur, Arbeiter*Innen und Tiere), durch eben diese Positionierung beherrscht würden (vgl. ebd., S.67).
Doch nun läge es an ebendiesen als Andere-Konstituierten, die Geschichte anders zu erzählen und sich selbst und ihre Welt neu zu erfinden, indem sie ihre eigene Gemachtheit erkennen, aufheben und neu erzählen.
„Die Cyborg ist eine Art zerlegtes und neu zusammengesetztes, postmodernes kollektives und individuelles Selbst. Ein Selbst, das Feministinnen kodieren müssen“ (ebd., S.51).
Bei dieser Neukodierung wäre eines der wichtigsten Werkzeuge das Schreiben (ebd., S.65). Denn laut Haraway ist es von Bedeutung, „[..] mit welchen Erzählungen wir andere Erzählungen erzählen, […] welche Geschichten Welten machen und welche Welten Geschichten machen“ (Haraway 2018, S.23). Es ginge deshalb darum immer wieder neue Geschichten zu erzählen, die die herrschenden Dualismen herausfordern, aufbrechen und verschieben (vgl. Haraway 1995, S.65).
In diesem Sinne verweist Haraway auch darauf, wie hilfreich beispielsweise Science-Fiction Texte bei dieser Neukonstruktion sein können, eben weil sie von Wesen/Cyborgs bevölkert wären, die sich bestimmten Zuweisungen (Mann/Frau, Artefakt/Subjekt, etc.) entziehen würden (vgl. ebd., S.63). Man könnte sich jedoch auch vorstellen, dass der mediale Umgang mit beispielsweise dem Dualismus Mann/ Frau einen großen Teil dazu beitragen kann, wie die Grenze zwischen Männern und Frauen verläuft und ob wir überhaupt von einer Grenze zwischen diesen beiden Kategorien ausgehen. Was würde passieren, wenn durch Medien andere Bilder, andere Geschichten transportiert würden?
Für Haraway ist es auch von Bedeutung, dass diese neuen Geschichten, Geschichten voller Verbundenheiten und Verantwortung wären, die sich nicht nur innerhalb einer Spezies abspielen (vgl. Haraway 2018, S.141). Denn um auf dieser Welt zu überleben und möglichst vielen Wesen und nicht-Wesen ein gutes Leben und Sterben zu ermöglichen, sei es unerlässlich sich anhand „[…] erfinderischer Verbindungslinien verwandt zu machen“ (ebd., S.9).
Warum Haraway für mich eine besondere Theoretikerin ist und genau hier hingehört
Man könnte Haraway demnach attestieren, ein Ziel vor Augen zu haben, oder eine bestimmte Vision davon zu haben, welche Geschichten sie erzählen möchte und in was für einer Welt sie leben will. Und dies ist auch der Grund, weshalb mir Haraway und ihre Theorien so gut gefallen haben, weil sie es auf der einen Seite ermöglichen, alles, auch das was wir für selbstverständlich und natürlich halten zu hinterfragen und zu dekonstruieren, aber auch weil Haraway dazu aufruft, sich für das, was man als wichtig und richtig erachtet, einzusetzen (vgl. Haraway 1995, S.35; vgl. ebd., S.78).
Und deshalb ist es auch richtig und vielleicht sogar wichtig, dass Theoretiker*innen wie Haraway auch hier, auf einem Medienkritischen Blog, ihren Platz haben können. Mit ihnen lassen sich andere Fragen stellen, geraten neue Dinge in den Blick und werden wir gleichzeitig in die Verantwortung gezwungen, für die Grenzen und Welten die wir schaffen.
Nimmt man Haraways Perspektive ein, ist kein Bericht, keine Reportage, kein Blogbeitrag und einfach rein gar nichts mehr unschuldig. Immer müssen wir uns Fragen: Welche Welten machen wir mit unseren Erzählungen? Welche Grenzen ziehen wir? Welche Möglichkeiten schließen wir aus?
Wie könnten wir auch und gerade über Medien versuchen, diese Grenzen aufzubrechen und neu zu erzählen? Und wer hat gar keine Stimme in diesem Spiel um Wahrheit und Welt? Wer kommt gar nicht in den Blick?
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Mehr zu Donna Haraway /Filmtipp
Terranova, Fabrizio (2016): Donna Haraway. Story Telling For Earthly Survival. Icarus Films: New York.
Mehr zu Moon Ribas und Neil Harbisson:
CYBORG ARTS (2019): Home: https://www.cyborgarts.com/
Arte Tracks (2016): Neil Harbisson – Tracks ARTE [YouTube]: https://www.youtube.com/watch?v=qTKVQmXq0CA
Mehr grenzverwischender Science Fiction:
Bacigalupi, Paolo (2016, 26 April): „Mika Model“. In: SLATE [online]: http://www.slate.com/articles/technology/future_tense/2016/04/mika_model_a_new_short_story_from_paolo_bacigalupi.html
Quellen:
Haraway, Donna (1995): Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt am Main: Campus Verlag.
Haraway, Donna (2018): Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän. Frankfurt am Main: Campus Verlag.
Loh, Janina (2018): Trans- und Posthumanismus. Zur Einführung. Hamburg: Junius Verlag GmbH.
Eberl, Ulrich (2019): Die Androiden kommen. In: Bild der Wissenschaft Themenheft Sommer 2019, S.36-41.
Schmitz, Sigrid (2016): Cyborgs, situiertes Wissen und das Chthulucene. In: Soziopolis-Gesellschaft beobachten [online] URL: https://www.soziopolis.de/erinnern/klassiker/artikel/cyborgs-situiertes-wissen-und-das-chthulucene/#sdfootnote7sym. Recherche am 20.06.2020.
Video 1: Arte Tracks (2016): Cyborgismus-Pionierin Moon Ribas – Tracks ARTE [YouTube] URL: https://www.youtube.com/watch?v=5P40j0ofxzo- Recherche am 16.06.2020.