Wir haben uns online kennengelernt?!
Warum Tinder nicht will, dass wir dort die große Liebe finden
ein Kommentar von Hannah Merk
Wer heute auf Partnersuche ist, der kommt um eins meist nicht mehr herum: Online-Dating-Plattformen wie Bumble, Grindr, OkCupid und – allen voran – Tinder, bestimmen mehr denn je die intimste Sache im Leben. Ob es nur etwas Kurzfristiges sein soll oder die ganz große Liebe – schnell werden wir verschluckt im Swiping, Matching und Chatting, immer bestimmt von einem undurchsichtigen Algorithmus. Kann das gut gehen?
Was ist Tinder?
- Online-Dating-App
- findet per GPS Nutzer*innen in der Nähe und schlägt deren Profile vor
- durch einen „Swipe“ nach rechts wird Interesse signalisiert, nach links kein Interesse
- wenn beide Personen nach rechts „geswiped“ haben, gibt es ein „Match“ und ein Chat kann begonnen werden
Es mag viele gute Gegenbeispiele geben, die zeigen, dass Nutzer*innen auf Tinder und Co. sehr wohl die große Liebe finden können. Das ist es, woran sich die meisten von uns wohl festklammern. Wenn man die Sache aber auf weniger verklärten Ebene sieht, ist eins klar: Dating-Plattformen wie Tinder sind kommerzielle Milliardenunternehmen und wollen vor allem Geld an ihren User*innen verdienen. Auch wenn es dem romantischen Unsereins wehtut: wenn jede*r auf Tinder gleich die große Liebe finden würde, wären wir ganz schnell wieder weg von der Plattform. Und daran verdient Tinder nichts.
Dass das wohl den meisten irgendwie bewusst ist und Online Dating trotzdem zum immer unverzichtbareren Mittel der Partnersuche wird, anstatt dass wir uns davon entsagen oder zumindest mehr hinterfragen, muss einen Grund haben. Und es mag erst einmal wie ein gewagter Vergleich klingen, aber so wie die eine abends zu einem Gläschen Wein greift und dann plötzlich eine ganze Flasche draus wird, so kann es einem auch mit dem Tindern gehen – es wird zu einer Sucht.
Tindern als Spiel, oder: Der Choice-Overload-Effekt
Durch die physische Distanz zum Gegenüber und der schier unendlich scheinenden Zahl an User*innen verschwindet die Bedeutung eines einzelnen Matches. Viel berauschender und dopaminreicher ist es, viele Matches zu bekommen und statt Candy Crush zu spielen, stundenlang durch die App zu swipen. Es gibt viele Menschen, die die App nur zum Spaß und aus Neugier benutzen. Sehen kann man das aber meist nicht, auch wenn man tatsächlich auf der Suche nach der wahren Liebe ist. Der Überfluss an potentiellen alternativen Partner*innen führt außerdem zu einem großen Mangel an Commitment. Das heißt, keiner möchte sich mehr verbindlich festlege. Das hält die Nutzer*innen auf der Plattform. Denn man könnte ja immer jemand noch besseren verpassen…
Tinder Fact Check
- in Besitz von: Match Group, Inc.
- Nutzer*innen weltweit (Stand 2019): 57 Mio
- Umsatz weltweit im Jahr 2021: 1,65 Mrd $
- Nutzeranteil in Deutschland im Jahr 2022: 36%
- Matches weltweit im Jahr 2022: 75 Mrd
Tindern zur Vermeidung von FOMO und für den Selbstwert
Es ist wie das ständige Aktualisieren des Instagram-Feeds. Seit meinem letzten Mal auf Tinder kann so viel passiert sein. Und wenn dann noch der „Swipe Alarm“ losgeht, muss alles stehen und liegen gelassen werden. Sonst kickt der FOMO, der Fear Of Missing Out, also die Angst, etwas zu verpassen. Matches sind das Äquivalent zu Likes und sorgen für den gleichen Kick des Glücksgefühls. Aber man kann als Nutzer*in nie wissen, was genau die anderen Nutzer*innen zu einem Swipe nach links oder rechts bewegt hat. Das herauszufinden und sein Profil immer wieder zu überarbeiten und zu optimieren kann ebenfalls zu einem langen Aufenthalt in der App bewegen.
Tindern ist wie shoppen gehen
Weil Tinder-Profile vor allem für einen schnellen, oberflächlichen Überblick angelegt sind, damit weiter geswiped werden kann, fühlen sich viele Nutzer*innen zunehmend als Ware, die jederzeit auf dem „neuesten Stand“ sein und sich gegen „Konkurrenz“ durchsetzen muss. Gleichzeitig finden wir es aber auch irgendwie bequem, auf Tinder wie in einem Katalog zu blättern, nach „Wunschattributen“ zu schauen und das Erhaltene auch ohne schlechtes Gewissen wieder „zurückschicken“ zu können.
Und trotzdem tindern wir
Warum setzen wir Menschen uns diesen Gefühlen trotzdem aus? De Ridder sagt, es ist der natürliche menschliche Drang, sich dem anzupassen, was gegeben zu sein scheint. Liebe ist zunehmend rationalisiert. Man findet sie im Internet. Dann muss das auch für mich gelten. Es ist auch eine Art Verdrängungsmechanismus: vielleicht bringt es mich in eine kritische Situation, über die Tiefe der Kommerzialisierung meines Liebeslebens nachzudenken. Also versuche ich mir den Sachverhalt so normal und vertraut wie möglich erscheinen zu lassen anstatt ihn zu hinterfragen. Mehr als die Hälfte aller Nutzer*innen entscheidet sich dann sogar für eine Plus- oder Gold-Version von Tinder, für die man bezahlen muss und einen unter Umständen weiter in den Strudel zieht, während Match Group ordentlich absahnt.
Selbst schuld?
Obendrauf kommt noch, dass ironischerweise auch im Verhalten vieler Nutzer*innen selbst, wie wir gesehen haben, eine gewisse Paradoxie steckt. Denn wer sich aufregt, geghostet (also ignoriert) worden zu sein, ghostet manchmal selbst. Wer sich nicht als Ware fühlen will, entscheidet selbst vielleicht immer nur nach dem Profilbild. Alles, was bemängelt wird, wird häufig reproduziert. Und wer Tinder eigentlich endgültig deinstallieren wollte, lädt sich die App an einem einsamen Abend vor dem Fernseher vielleicht doch wieder runter. Das verschlimmert die Spirale noch und die Match Group muss nicht mal einen Finger dafür rühren. Das liegt auch in unserer Macht.
Vielleicht hilft dieser Kommentar ein paar unglücklichen Tinder-Nutzer*innen da draußen. Ich sage euch: Ihr seid mehr wert! Tinder blind zu verteufeln wäre falsch, ein wenig Hinterfragen und eine bewusste Nutzung machen aber auf jeden Fall Sinn. Nutzt die App nur, wenn sie euch wirklich guttut und Spaß macht und behandelt die Menschen so, wie ihr auch behandelt werden möchtet!