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Nachtleben in Tübingen

Zwischen medialer Skandalisierung und Exzess

Von Nico Henkel, Felix Groß

21:15 Uhr vor dem Uhland-Gymnasium in Tübingen. Die Durchfahrt durch die Fahrradroute, die aufgrund der ständigen Baustelle am Bahnhof immer beliebter wird, verengt sich immer weiter. Denn statt Grün-wählenden Radlern, tummeln sich nun immer mehr feiernde junge Menschen auf der Uhlandstraße. Die Fahrradfahrenden schlängeln sich langsam dazwischen durch, manche blicken amüsiert, andere genervt. Am Straßenrand liegen die ersten Glasscherben.

In der letzten Zeit klagt die Stadt häufig über die übermäßige Vermüllung an öffentlichen Orten. Mülleimer sind in der Uhlandstraße weit und breit nicht zu sehen. Eine Jugendliche berichtet, dass es früher einmal welche gegeben hat, bevor diese mit Böllern weggesprengt wurden. Auch die Tübinger Polizeibehörde ist vor Ort anzutreffen. Natürlich nicht zum Feiern, sondern um die Feierlichkeiten zu überblicken und Eskalationen, wie es sie in der Vergangenheit gegeben hat, zu verhindern.

Eine Jugendliche, die offensichtlich etwas zu viel getrunken hat wird im Moment von ihren Freundinnen versorgt.

Der Geräuschpegel steigt, überall hört man angeregte Gespräche, aus der einen Ecke tönt Technomusik, aus der anderen Schlager. Es scheint als mischen sich hier verschiedene Milieus friedliche und gut gelaunt, zumindest musikalisch.

Schlägt man eine typische regionale Tageszeitung auf, kann man tatsächlich oft das Gefühl bekommen, die Jugend bestünde zunehmend fast nur noch aus gewalttätigen, trinkenden unsolidarischen Taugenichtsen

Spätestens seit der Stuttgarter Krawallnacht im Juni 2020 werden feiernde Jugendliche im öffentlichen Raum von verschiedenen Medien sehr kritisch betrachtet. So empört sich beispielsweise Sabine Rossbach in einem NDR Beitrag über jugendliche Feiernde und äußert ihr Unverständnis. „Ich verstehe, dass sich junge Menschen treffen möchten, zum Beispiel im Stadtpark. Aber muss man sich dort besaufen und miserabel benehmen?“ Sie geht sogar noch weiter und meint: „solches Verhalten hat kein Verständnis verdient. Das ist schlechtes Benehmen.“ So sieht es zumindest Die Chefin des Hamburger NDR-Funkhauses.

Ein solches Unverständnis ist sicherlich nicht ganz unbegründet. Glasscherben in Parks, zu laute Musik zu später Stunde oder umgetretene Fahrräder sind ohne Frage ein Ärgernis. Auch Boris Palmer, der Tübinger Oberbürgermeister äußert sich sehr kritisch gegenüber Jugendlichen Feiernden im Tübinger Umkreis und stellt fest, dass es seit Beginn der Corona Pandemie viele Beschwerden der Anwohner über Vandalismus, abgebrochene Autospiegel, zertretene Scheiben und Autos sowie Glasscherben und Lärm gebe. Im Verhalten junger Menschen sieht er ´Rotzbubengehabe´. Seine Kritik daran äußert er mit weiteren Bürgermeistern aus Schwäbisch-Gmünd und Schorndorf in einem Brandbrief, der dieses Verhalten stark angeht. So kommt es, dass die Stadt Tübingen im Sommer 2021 versucht, zeitweise alle derartigen Treffen junger Menschen im Öffentlichen Raum zu unterbinden. In der gesamten Altstadt und im Botanischen Garten galt ein Verbot von Alkohol, Glasflaschen, und Musikboxen. Selbstverständlich mit Ausnahme der Gastronomie. Quasi ein de facto Verbot für junge Menschen -auch jene, die auch ausschließlich friedlich eine gute Zeitmiteinander verbringen wollten. Sich daran halten, das taten allerdings nur wenige.

Allerdings möchten wir uns in diesem Beitrag an einen Perspektivwechsel wagen und versuchen besser zu verstehen, wie es immer wieder zu solchen Vorkommnissen kommt, und was man als Stadt, als Bürger*in oder als Feiernde*r dagegen tun kann.

Inzwischen sind wir mit unserem abendlichen Beochtungsspaziergang an der Neckarbrücke angelangt. Mit jedem Schritt Richtung Neckarbrücke hören wir nun lauter werdende Lieder, die aus verschiedenen Boxen schallen. Was wir hier wahrnehmen ist ein ganz ähnliches Bild wie an der Uhlandstraße, an der wir uns zuvor aufhielten.

Respektiv betrachtet fragen wir uns, wie es dazu kommt, dass ein Ort von jungen Erwachsenen zum Feiern auserkoren wird und sich das ähnliche Schauspiel auf verschiedenen Bühnen abspielt.

In einem Gespräch mit einem Streetworker der mobilen Jugendarbeit haben wir solche Fragen angesprochen. Dabei erzählt er uns, dass er und seine Kolleg*innen sich mit Jugendlichen über deren Bedarfe, Wünsche und Meinungen zum öffentlichen Raum austauschen. Tatsächlich sind die Meisten mit ein wenig Licht, Sitzgelegenheiten und Überdachung schon zufrieden. Es zeigt sich, Junge Menschen brauchen nicht viel und werden dennoch oft als störend wahrgenommen und vertrieben.

Dennoch ist der Aufenthalt an öffentlichen Plätzen für ihre Entwicklung sehr wichtig und förderlich, denn der öffentliche Raum stellt für Jugendliche einen relevanten Lernort dar. Was zunächst lediglich als Herumlungern abgetan werden könnte, ist tatsächlich wichtiger Teil ihrer Persönlichkeitsbildung. Denn hier findet informelles Lernen statt.

Das öffentliche Leben kann einen Gegenpol zum starr-strukturiertem schulischen Lernen bringen. Diese Plätze können kreativ gestaltet und genutzt werden und fördern damit die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben. Daher ist es wichtig, dass der öffentliche Raum auch jungen Leuten zur Verfügung steht, oder eigene Örtlichkeiten für junge Erwachsene bereitgestellt werden. Der Streetworker berichtet uns allerdings, dass sich oft das Gegenteil beobachten lässt: Orte, die von Jugendlichen als Aufenthaltsorte für ihre Freizeit genutzt werden, werden zunehmend eigeschränkt, überwacht und mit verboten belegt. Viel sinnvoller wäre es stattdessen, die Örtlichkeiten anzuerkennen und in Mitsprache mit den Jugendlichen beispielsweise mit Mülltonnen auszustatten und zu unterstützen.

23:30 Uhr – Inzwischen machen wir uns auf den Heimweg. Unsere Wahrnehmungen der jungen Feiernden und der in den Zeitungsartikeln, die wir zur Vorbereitung gelesen haben, geht deutlich auseinander. Nicht immer muss Feiern, Eskalation und ein Zusammentreffen von Freunden ein Ausdruck von aggressivem Rotzbubengehabe sein. Stattdessen können Freiräume für junge Menschen auch Ausdruck einer lebenswerten Stadt sein.

Quellen:

[1] https://www.ndr.de/nachrichten/hamburg/coronavirus/Kommentar-Kein-Verstaendnis-fuer-schlechtes-Benehmen,hamburgkommentar554.html 

[2] https://www.youtube.com/watch?v=7NcMrzpL5I8 

[3] Frank Mitja (2020): Kampf um den öffentlichen Raum – (k)ein Platz für junge Menschen. In: Landesarbeitsgemeinschaft Mobile Jugendarbeit/ Streetwork BW (Hrsg.): Praxishandbuch Mobile Jugendarbeit. S. 309-318.