Let’s BeReal: Wie authentisch ist die neue Plattform wirklich?
Von Vera Fuller
BeReal verspricht Authentizität. Dort stehen – im Gegensatz zu anderen Plattformen – „echte Freundschaften“ im Mittelpunkt. Endlich dürfen auch Doppelkinnfotos, bis hin zu schnarchlangweiligen Wandschnappschüssen glänzen. Im Selbstversuch testet unsere Autorin das Versprechen nach Echtheit und kommt zu einer ernüchternden Erkenntnis.
Seien wir mal ehrlich: Warum pflegen wir unsere Social-Media-Profile? Weshalb hängen wir uns schöne Bilder in die Wohnung oder schenken unseren Nachbar*innen im Vorübergehen ein Lächeln? Die Antwort, die ich für mich persönlich auf diese Fragen gefunden habe, lautet: Weil es mir wichtig ist, von anderen geschätzt zu werden. Und weil ich, nicht zuletzt, Wert auf Ästhetik lege. Macht mich das nun zu einer oberflächlichen, filterabhängingen Millennial-Göre? Derartige Selbstzweifel überkommen mich nach dem Ausprobieren der neuen Trend-App BeReal.
Es ist Mai 2022: zum ersten Mal höre ich von der neuen App. Eine der coolen Gen-Z-Kids unserer Erasmusgruppe reicht mir ihr Handy. Auf dem Bildschirm ist ein einfallsloses Foto von unserer Umgebung abgebildet. „Das neueste soziale Netzwerk!“, sagt sie mir und fügt beiläufig hinzu: „Dort bin ich nur mit ein paar wirklich guten Freund*innen vernetzt.“ Ich reiche ihr verblüfft das Smartphone zurück – diese hochmoderne Lebensrealität ist mir bis dahin völlig entgangen. Daraufhin braust meine deutlich jüngere Mitstudentin auf ihrem Skateboard davon. So fühlt es sich also an, alt zu werden. Zunächst denke ich nicht im Traum daran, mir diese neue App zu holen. Es überkommt mich sogar ein Anflug von Mitgefühl für die Boomer, die noch nie im Leben – abgesehen von ihrem WhatsApp-Statuts – eine Story auf irgendeinem sozialen Netzwerk gepostet haben. Wie „lost“ müssen die sich wohl fühlen?
Selbstversuch – oder lieber nicht?
Ein paar Monate später werde ich jedoch erneut mit BeReal konfrontiert: Meine 15-jährige Schwägerin Abby aus den USA teilt regelmäßig ihre besten BeReals auf Insta, TikTok und Co. Die Fotos haben eine andere Ästhetik, wirken ehrlicher und zeigen Abby mit witzigen Grimassen. Nun packt mich widerwillens die Neugierde: Wie authentisch ist dieses neue soziale Netzwerk eigentlich? Ich beschließe einen Selbstversuch zu wagen. Schnell ist die App heruntergeladen, der erste Schritt geschafft. Nach dem Öffnen sehe ich jedoch nichts als gähnende Leere auf meinem Profil. Immerhin wird mein Feed nicht mit Werbung überflutet. Nun habe ich die Möglichkeit ein BeReal aufzunehmen, jedoch weist mich die App darauf hin, dass ich „Zero Friends” habe. Wozu ein temporäres Foto machen? Ich scrolle durch eine Liste mit Vorschlägen und merke: Keine*r meiner „echten” Freund*innen ist auf BeReal – so ein Mist. Ich schließe die App und entscheide mich dafür, mein Wissen auf andere Art einzuholen. Eine echte Expertin möchte ich befragen, die einen frischen Blick auf die Dinge hat: meine Schwägerin und die Teenagerin Abby.
In einem netten und kurzen Videoanruf nach Texas erzählt mir Abby, sie nutze BeReal seit ein paar Monaten täglich. Auf meine Frage, wie ihr die App im Vergleich zu anderen sozialen Medien gefällt, antwortet sie: „Es macht Spaß, weil man mehr von der albernen Seite der Leute sieht. Auf BeReal bekomme ich häufiger Ausschnitte aus dem Leben anderer zu sehen und davon, was sie gerade machen.“ Im Gegensatz zu Snapchat, was ihr eher zum Zeitvertreib dient, kann sie über BeReal wirkliche Erinnerungen schaffen, findet Abby. Die Plattform sei persönlicher. „Na gut“, denke ich mir, „eine Chance hat mein Selbstversuch noch verdient.“
Annäherungen an die App
Inzwischen hat mir eine ehemalige Mitpraktikantin auf BeReal eine Freundschaftsanfrage geschickt. Ich kann es kaum glauben – ein Zeichen des Himmels?
Ich entschließe mich direkt dazu, ein Foto zu posten, erst dann kann ich auch ihren Post sehen. Also klicke ich auf die Nachricht mit den zwei gelben Warnzeichen, die BeReal einmal täglich zu einer zufälligen Uhrzeit schickt: Meine Kamera springt an und der zweiminütige Timer startet. Das löst sofort etwas Stress bei mir aus. Ich setze meine Frühstücksbrezel auf dem Teller in Szene, wie ich das als Instagram-Erfahrene von meinen Food-Stories gewohnt bin. Puh, grade nochmal gut gegangen, ein passables Bild ist festgehalten. Aber was um alles in der Welt…? Kurz nachdem ich das Foto geschossen habe, macht meine Frontkamera ein Foto von mir, wie ich halb sichtbar und unelegant über dem Tisch hänge. Noch 20 Sekunden. Jähe Panik ergreift mich. Schnell wiederhole ich das Selfie. Mein Unbehagen steht mir ins Gesicht geschrieben. 10 Sekunden verbleiben. Neuer Versuch, lächelnd und die Haare aus dem Gesicht gestrichen. Das ist annehmbar, ich klicke „absenden“. Endlich geschafft – wie anstrengend. Wie konnte ich die Regel mit den beidseitigen Fotos nur vergessen? Plötzlich sehne ich mich nach der Möglichkeit, meine Bilder vor dem Hochladen genau auszuwählen. Nächstes Mal wollte ich mir vorher genau überlegen, wann ich die App öffne. Vielleicht in der Natur oder unterwegs. Aber Moment, ist das nicht Schummeln? Das sogenannte „Late“ ist nur eine Backup-Option der App, wenn man den initialen Timer verpasst. Der eigentliche Sinn besteht hingegen im spontanen Posten.
Nichts für nachdenkliche Menschen
Abby teilt mein Bedürfnis des nachträglichen BeReals, was mich erleichtert. In unserem Gespräch verrät sie mir, dass auch sie regelmäßig darauf wartet, bis sie etwas Tolles erlebt oder einen Schnappschuss zusammen mit ihren Freund*innen teilen kann. Trotzdem findet sie die App unverfälschter als z. B. Instagram. Schließlich können die Aufnahmen nicht bearbeitet werden. Es gibt auch Tage, an denen Abby im Bett liegt und ein BeReal macht. Oder einfach Fotos von zufälligen Dingen oder von ihren Katzen. Am Ende unseres Gespräch sagt sie noch: „Auf lange Sicht wird Instagram sicher die beliebtere Plattform bleiben, da dort einfach mehr los ist. Aber BeReal erlaubt es, an den Alltagsmomenten von Freund*innen teilhaben zu können.“ Abby ist überzeugte Userin. Vielleicht hilft ihr die unerschrockene und lockere Art, aufgewachsen mit TikTok in den USA, wo man problemlos fremde Leute im Supermarkt anquatschen kann. Oder es ist ein Generationending. Immerhin scheinen alle ihre engen Freund*innen genauso entspannt wie sie bei der Nutzung und denken nicht zweimal über die Optik der Fotos nach. Für mich als zartbesaitete Introvertierte fühlen sich die aufgezwungen Frontkamera-Selfies hingegen schrecklich unnatürlich an. Trotzdem nutze ich die App noch eine Weile. Inzwischen habe ich sogar ein paar meiner „echten“ Freund*innen auf die Plattform geschleppt und ein paar weitere, nette Gesichter hinzugefügt. Ich scrolle mich durch Selfies am Bahnsteig sowie Fotos von Schreibtischen und Kühlschränken meiner Bekannten. Auf der unspektakulären Discovery-Page tummeln sich die Posts x-beliebiger Menschen. Nichts was mich vom Hocker haut. Keine blinkenden Versuchungen, kein politischer Content und weit und breit keine Hashtags. Ab und zu erhalte ich einen, maximal zwei nettgemeinte „Realmojis“ auf meine inhaltsleeren Beiträge.
Echte Zugeständnisse
Ein Erlebnis auf BeReal gibt mir den Rest: Grade auf dem Sofa gammelnd und Netflix schauend ploppt die Benachrichtigung auf, ich habe zwei Minuten Zeit mein Foto zu schießen. Ich denke: „Zum Glück gibt es die Late-Funktion. Ich bin grade wirklich nicht in Kamerastimmung.“ Nachher beim Spaziergang öffne ich die App erneut, der Timer beginnt: Ein Foto vom Apfelbaum und zack, ein Selfie – doch die Häuser im Hintergrund sind erschreckend detailliert. Mir gefällt gar nicht, wie viel da über meinen Wohnort preisgeben wird. Ich bin es gewohnt, selbst zu entscheiden was ich auf sozialen Medien teilen will und was nicht. Also wiederhole ich das Bild, ändere den Winkel. Schon wieder gefällt mir etwas nicht: Erst mein ernster, gewollt belangloser Blick, beim nächsten Versuch mein unechtes Grinsen. Der Timer ist abgelaufen, aber ich drücke nicht auf „Senden“. Ich schließe die App und probiere es erneut. Nach vielen Anläufen habe ich ein Foto, das mir zusagt. Ich poste es und bin endlich zufrieden. Ein letztes Mal schaue ich mir mein Foto an und erschrecke schlagartig. Unter meinem Post steht, es habe 17 Anläufe bis zu diesem Foto gebraucht. Wie peinlich! Das können bestimmt alle sehen. Schnell lösche ich den Post und muss sogar eine Begründung angeben: „Technisches Problem“, wähle ich. Ich bin genervt und bekomme schlechte Laune, fühle mich in meiner Privatsphäre kontrolliert. Diese App, die ist nichts für Leute wie mich. Von wegen „echt“!
Für Abby ist das Versprechen nach Authentizität nicht gebrochen – sie findet es lustig, zufällige Bilder ihrer Freund*innen zu empfangen. Lustig finde ich an der App gar nichts. Früher hatte ich wenigstens noch Spaß an Social Media. Mit BeReal geht das aber nicht mehr: Ernst, Langeweile und Zwänge bestimmen meine Plattformerfahrung. Dafür kann ich mein natürliches, „reales“ Selbst nicht untergraben. Und das ist kamerascheu und postet nur selten; wenn, dann aus dem Archiv. Ich fasse den Entschluss, meine Selbstzweifel über Bord zu werfen. Wenn ich etwas Großartiges erlebe, dann packe ich es lieber gelegentlich in meine Story und zwar mit gut überlegter Belichtung, sorry! Falls ich letztendlich doch mal ein super authentisches Selfie verschicken möchte, gibt es noch immer die guten alten Privatnachrichten.