„Krimi schauen ist wie Achterbahn fahren“

von Ricarda Dietrich

„Krimi schauen ist wie Achterbahn fahren“

(Borwin Brandelow, Psychiater aus Göttingen)

 

Es ist ein deutsches Phänomen: Sonntagsabends um 20.15 Uhr sitzt die gesamte Republik vor dem Fernseher und schaut verschiedenen Ermittler-Teams beim Aufklären von Fällen zu. Woher kommt diese Faszination mit Mord und Geheimnissen? Was gefällt Menschen so an Krimis?

13 der 15 meistgesehenen Filme im deutschen Fernsehen im Jahre 2010 waren „Tatorte“. Diese Zahlen zeigen vor allem eins: Wir lieben Spannung. Krimis sind eines der beliebtesten Fernseh-Formate und der „Tatort“ speziell läuft seit 1970, also nun seit 45 Jahren sehr erfolgreich. Um noch ein paar weitere überzeugende Zahlen zu liefern: insgesamt wurden in diesen 45 Jahren 962 Folgen des „Tatorts“ ausgestrahlt. Es gibt etwa 35 neue Folgen jedes Jahr, die beliebtesten davon sind laut Einschaltquoten die, in denen das Münsteraner Ermittler-Team sich auf die Fährte von Verbrechern und Mördern begibt. Am 08. November 2015 zum Beispiel, schalteten 13,63 Millionen Zuschauer den Fernseher ein, um Boerne und Thiel in der neuen Folge „Schwanensee“ beim Ermitteln über die Schulter zu schauen. Woher kommt dieser wahnsinnige Erfolg von Krimis? Wohl nicht nur von unterhaltsamen Ermittler-Teams, auch wenn diese sicherlich eine große Rolle im internen „Tatort“-Ranking spielen.

Gruseln zur Bedürnisbefriedigung

1477203892_0b11668f81_zKrimis befriedigen drei Bedürfnisse des Menschen. Zum einen besitzen wir ein Grundbedürfnis nach Gerechtigkeit. In Krimis, die in den meisten Fällen den Kampf des Guten gegen das Böse darstellen, wird genau dieses Bedürfnis befriedigt. Der Mörder ist am Ende der Folge gefasst, die Ermittler haben gesiegt.

Ein weiteres Bedürfnis, das Krimis befriedigen, ist das nach Spannungsabbau. Der durch eine spannende Handlung aufgebaute Nervenkitzel wird von uns als angenehm empfunden. Die Spannung weckt Urinstinkte in uns, die dafür sorgen, dass wir uns im Notfall verteidigen oder flüchten. Sehen wir jedoch einen Krimi im Fernsehen, dann wissen wir, dass wir sicher sind, im Wohnzimmer auf der Couch. Wir können also diese Spannung erleben ohne selber in Gefahr zu sein. Nachdem die Schreckensmomente vorbei sind, schüttet der Körper Glückshormone aus – ein angenehmer Nebeneffekt. Durch die Bestätigung, dass am Ende alles gut ausgeht, können wir wieder entspannen und von dieser Erfahrung etwas mit in unseren Alltag nehmen; es wird am Ende alles gut. Der erwünschte Spannungsabbau ist erreicht.

Außerdem ist der Mensch, so einfach es klingen mag, ein neugieriges Lebewesen. Wir mögen Geheimnisse und rätseln gerne mit, wer der Täter gewesen sein könnte. Zudem führt es uns immer wieder vor Augen, wie profan unsere Geheimnisse oder Probleme doch sind im Vergleich zu den schweren Verbrechen, die im Fernsehen geschehen. Da kann man auch schon mal darüber hinwegsehen, dass die Aufklärungsquote in Krimis äußerst unrealistisch ist. Laut polizeilicher Kriminalstatistik werden 54% aller Fälle im echten Leben aufgeklärt. Im Krimi sind es etwa 99%. Aber ein unaufgeklärter Fall wäre für die Zuschauer nicht befriedigend, da er mit einem mulmigen Gefühl den Fernseher ausschalten würde, dass manche Verbrecher nicht gefasst werden, sondern mitten unter uns leben. Um etwas über diese Realität zu erfahren schaut man Nachrichten und kein Unterhaltungsfernsehen.

Aktualität und gesellschaftlicher Diskurs

Die gesellschaftliche Relevanz von Krimis darf nicht unterschätzt werden. Krimis beschäftigen sich unausweichlich mit Moralüberschreitungen und -verletzungen. Sie führen dazu, zu hinterfragen, was richtig und was falsch ist und ob etwas Falsches in manchen Situationen nicht auch vertretbar sein kann. So geben sie nicht nur die Möglichkeit, sich mit den Ermittlern zu identifizieren, die immer auch ihr eigenes Gepäck mit in den Fall bringen, sondern bisweilen findet der Zuschauer sich auch in der Position, sich mit dem Opfer oder sogar dem Täter verbunden zu fühlen. Außerdem kann der Krimi auch Milieus und Kreise beleuchten und zugänglich machen, mit denen der Durchschnitts-Bürger sonst nicht in Berührung kommt.

Die Deutschen und ihr „Tatort“

14214570902_ce4a8f229a_zBesonders der Lieblings-Krimi der Deutschen, der „Tatort“, übt diese Funktion verstärkt aus. Wie bei den meisten Krimis, die im Fernsehen zu sehen sind, ist der „Tatort“ eher im Alltag angesiedelt – der Fall ebenso wie die Sendezeit. Krimis, die für die große Leinwand produziert werden gehen häufiger in die Genre-Richtung des Thrillers und decken größere Komplotte, Verstrickungen und Skandale auf, als es sie in Münster oder Ludwigshafen wohl geben wird. Doch gerade der manchmal kleinstädtische, aber vor allem der regionale Bezug ist das, was jeden Sonntag tausende Menschen vor die Fernseher lockt. Regionale Besonderheiten sind bewusst eingebaut, man kennt die Orte, an denen die Ermittler ihre Curry-Wurst essen und identifiziert sich so mit der Krimi-Reihe. Zudem werden im „Tatort“ häufig aktuelle Themen, die die Bevölkerung beschäftigen, behandelt. Sei es Stuttgart 21 oder das Thema des Bleiberechts. Der Zuschauer hat im „Tatort“ häufig noch einmal die Chance, sich mit diesen Themen auf eine andere Art und mit einer anderen Perspektive auseinander zu setzen, als wenn er nur die Nachrichten schaut.

Genau diese zwei Punkte sind die wichtigsten Argumente, um den „Tatort“ einzuschalten. Zudem hat er sich inzwischen zum neuen Wochenendritual in vielen Familien oder Wohnungen gemausert. Das was früher einmal „Wetten, dass…?“ war, ist heute der „Tatort“. Auch wenn vielleicht nicht mehr unbedingt die Kinder mitschauen, man schaut ihn doch häufig im Kollektiv. Es gibt viele Kneipen, die Sonntagsabends ein „Tatort“-Schauen anbieten. Er ist aber auch ein gutes Beispiel für die Neigung zur Routine der Deutschen. Der Krimi am Sonntagabend gehört zur Woche dazu und wenn der Fall um 21:40 geklärt ist, dann kann die Zuschauerschaft zufrieden in die Woche entlassen werden. Und sollte jemandem der Sonntagabend nicht genügen, so ist an jedem anderen Abend der Woche ein alter „Tatort“ auf einem der dritten Programme zu finden.

Fotos: flickr.com/Eva Freude (CC BY-NC-SA 2.0); flickr.com/seagers (CC BY-NC-SA 2.0); flickr.com/Tim Reckmann (CC BY-NC-SA 2.0)