Hey, guck mal, das sind auch tolle Menschen!

Helen Khorrami und Joel Okonnek

Claus Drexel versucht in seinen Filmen, einzigartigen und oftmals übergangenen Menschen eine Bühne zu bieten. Sein neuester Film „America“ fängt Stimmen vor, während und nach der Präsidentschaftswahl 2016 in Amerika ein – in einem 500 Einwohner großen Städtchen in Arizona. Im Gespräch mit Helen Khorrami und Joel Okonnek erzählt der Regisseur von den Ideen hinter „America“, seiner Art des Filmemachens und seiner Freude am Entdecken.

In Ihrem neuesten Film geht es um die Präsidentschaftswahl in Amerika. Was bewegt einen Europäer dazu, einen Dokumentarfilm über dieses Thema zu drehen?

Ich bin eigentlich ein großer Amerika-Freund und -Kritiker und habe die Primaries intensiv verfolgt. Und auf einmal, das konnte niemand glauben, ist Trump der Kandidat der Republikaner geworden. Da dachte ich mir, da muss ich unbedingt hin und einen Film drehen. Ich glaube, es ist wichtig, dass man das auch als Ausländer macht, denn im eigenen Land ist die Wirklichkeit oft so, als ob man in einem Schwimmbad voller Milch schwimmen würde: Man sieht nie den Rand, solange man selbst darin ist. Deswegen ist es immer gut, wenn Leute von außen kommen und die Situation betrachten. Ich fände es auch gut, wenn zum Beispiel Amerikaner, Japaner oder Afrikaner hierherkommen und Filme über die Politik in Europa machen würden. Ich interessiere mich aber auch mehr für die Menschen als für das eigentliche Thema, deswegen wollte ich wirklich mit den Leuten dort reden.

Warum haben Sie denn genau diese eine Stadt, Seligman in Arizona, für Ihren Film ausgewählt?

Ich wollte unbedingt, dass der Film auch etwas Symbolisches über Amerika zeigt. Grand Canyon, Monument Valley – das sind Bilder, die man kennt. Ich wusste, dass es in der Nähe dieser unglaublichen schönen Landschaften Menschen gibt, die in wirklich ärmlichen Verhältnissen leben. Diesen Kontrast fand ich sehr interessant. Als wir dann eines Morgens durch Seligman gefahren sind, habe ich diese zwei Typen erblickt, die gerade ein Reh erjagt hatten. Ich bin dann einfach zu ihnen hin und habe ihnen gesagt: „Hey, wir sind aus Europa und drehen gerade einen Dokumentarfilm.“ Meine Freunde in Los Angeles haben mir gesagt, ich solle aufpassen, weil die alle Waffen trügen und gefährlich seien. Der Typ schaut mich erst mal an, wie im Western, ein paar Sekunden Stille. Ich dachte mir schon: „Oh Gott, was ist jetzt los?“, und dann öffnet er seine Eis-Box, gibt mir ein Bier und sagt: „Hey, welcome to America!“ Das fand ich unglaublich toll und so haben wir uns dann für diese Stadt entschieden.

Was wäre denn zum Beispiel gewesen, wenn Sie eine andere Stadt als Drehort für „America“ gewählt hätten?

Dann wäre natürlich auch ein anderer Film dabei rausgekommen. Das finde ich auch so spannend: Man weiß nie, was passiert. Man entdeckt den Film, während man ihn dreht. Ich versuche immer, so wenig wie möglich über die Menschen im Vorhinein schon zu wissen. Wie zum Beispiel bei der schwangeren Frau: Ich wusste schon, dass es natürlich viel um Waffen und Gewalt gehen würde in dem Film, und deswegen dachte ich: Eine schwangere Frau möchte natürlich eine friedliche Welt für ihr Kind und redet dann über Blümchen und Schmetterlinge. Und dann finden wir diese Frau, und auf einmal ist sie bewaffnet und möchte ihrem Kind schon mit fünf Jahren einen Revolver schenken. Als wir das gedreht haben, musste ich hinter der Kamera fast weinen. Ich dachte mir: „Um Gottes Willen, nein, Jenna! Bitte, sag doch etwas anderes! Du bist doch eine Mutter!“

Würden Sie sich selbst als jemanden beschreiben, der versucht die Realität so darzustellen, wie sie ist und auf Sie zukommt? Oder wählen Sie Orte und Menschen gezielt aus?

Ich glaube, die Realität gibt es eigentlich gar nicht. Das heißt auch der Film, wenn er fertig ist, hat keine eigene Realität, weil es eigentlich eine Beziehung zwischen Film und Betrachter ist. Jede Kameraeinstellung kann den Film verändern, obwohl es dieselbe Realität ist, dieselben Menschen, derselbe Raum. Man sagt immer, das cinéma verité nehme die Sachen, so wie sie sind, aber sie sind einfach nicht so, wie sie sind. Das heißt, man muss alles stilisieren durch Kameraarbeit, Tonaufnahmen, Musik und so weiter. Und dann kommt eine andere Realität heraus und das ist für mich sehr wichtig.

„America” beginnt mit dem Trump-Zitat „The American dream is dead.” Wie denken Sie darüber?

Das seltsame ist, dass fast jeder gebürtige Amerikaner sagt: „Yeah, the American Dream is dead.“ Aber die zwei Motelbetreiber aus Sri Lanka, die sagen: „Hey, klar. American Dream! Wir sind mit zwei Koffern nach Amerika gekommen, und haben jetzt trotzdem unser Motel!“ Die beiden haben es geschafft, es ist also bestimmt noch machbar. Ich glaube aber, dass die Welt immer schwerer wird. Ich möchte jetzt nicht zu pessimistisch klingen, aber dass man mit seinen Träumen leben kann und nicht unter dem System schwächeln muss, das ist mir wichtig. Mein Traum ist es nicht, jedes Jahr das neue iPhone zu kaufen. Aber das ist der Traum, der uns so diktiert wird. Stichwort Konsumgesellschaft. Das war auch die Idee im Film.

Man sagt, Filme seien ein Spiegel für die Gesellschaft. Sie haben ja auch schon fiktive Spielfilme gedreht. Was ist denn Ihrer Meinung nach der bessere Spiegel: Spielfilm oder Dokumentarfilm?

Also für mich gibt es keine klare Grenze zwischen den beiden. Ich fand es zum Beispiel unheimlich spannend, nach Amerika zu reisen und diese Menschen zu entdecken, die ich nicht kenne. Deswegen ist es da wichtig, dass ich einen Dokumentarfilm mache, weil ich das selbst nicht schreiben kann. Und jetzt schreibe ich einen Spielfilm, weil ich diese Geschichte eben filmen möchte, aber so ehrlich wie einen Dokumentarfilm. Aber diesmal brauche ich eben einen Spielfilm dazu, damit ich diese Geschichte erzählen kann.

Um noch einmal über Dokumentarfilme im Allgemeinen zu reden: Welchen Anspruch haben für Sie Dokumentarfilme an sich selbst und was ist ihr Sinn oder ihre Aufgabe in der heutigen Gesellschaft?

Auch unter den Dokumentarfilmen gibt es informativere Filme und welche, die eher Kunstfilme sind. Ich glaube, ich gehe mehr in die letztere Richtung. Für mich ist es eigentlich nicht wichtig, viele Informationen zu liefern und Sachen zu erklären. Ich sehe mich mehr als eine Art Explorateur, einer, der die Welt entdecken möchte. So ging ich auch nach Arizona. Ich wollte nicht hinfahren und einen Film machen, um den Europäern zu erklären, wie es in Amerika ist und wie die Amerikaner sind, sondern nur die Menschen dort beobachten. Ich bin absolut überzeugt davon, dass jeder Mensch sehr interessant ist und deswegen mache ich auch Filme über die Obdachlosen in Paris oder die Amerikaner, die im hintersten Amerika wohnen. Das sind alles Leute, die immer so von oben betrachtet werden und ich finde das sind spannende Menschen. Ich sehe das jetzt nicht als meine Mission, aber das möchte ich einfach machen.

Zur Person

Claus Drexel wurde 1968 in Bayern geboren, zog aber mit drei Jahren mit seiner Familie nach Grenoble, Frankreich, wo er auch audiovisuelle Technologie studierte. 1991 zog er nach Paris und begann dort zur Filmschule zu gehen. Nachdem er als Regisseur zuerst drei Kurzfilme gedreht hatte, veröffentlichte er 2013 seinen ersten Dokumentarfilm „Au bord du monde“, für den er erstmals mit Kameramann Sylvain Leser zusammenarbeitete. Für seinen aktuellen Film „Amerika“ drehte er wieder zusammen mit Leser – dieses Mal in Arizona.

Helen Khorrami und Joel Okonnek studieren Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Beim Interview mit dem Regisseur Claus Drexel begeisterte sie vor allem dessen offensichtliche Leidenschaft für die Themen und Menschen hinter seinen Filmen.

Quelle des Fotos: Französische Filmtage Tübingen