Fitness-Apps: Mehr Gift als Gold?
Im Gespräch mit einem Entwickler-Duo
Von Smilla Haendel
Die Nutzenden eines Fitness-Trackers oder eines in das Smartphone integrierten Schrittzählers kennen dieses Gefühl wahrscheinlich: Es ist 23:50 Uhr und es fehlen noch 500 Schritte, um das Tagesziel zu erreichen. Was tun? Noch schnell eine Runde um den Block rennen? Oder die mahnende Benachrichtigung durch das Gerät am Handgelenk einfach ignorieren? Aber was denkt dann der sportliche Arbeitskollege, der meine Aktivitätskalorien genauso sehen kann, wie ich seine?
Digitale Fitnesstracker und damit verbundene Auswertungsapps können – besonders durch ihre Netzwerkfunktionen – Leistungsdruck erzeugen. Das hat eine Studie der National University of Ireland in Galway jetzt herausgefunden. Bei vielen Nutzenden entsteht sogar der Zwang, intensiver zu trainieren oder mehr Schritte zu gehen als andere Personen, mit denen man über die App in Verbindung steht. Ein Stück weit ist das auch so gewollt. Schließlich steckt dahinter die Idee, durch den Wettbewerb mit anderen Nutzenden zur mehr Bewegung motiviert zu werden. Aber wann schlägt dieses spielerische Kräftemessen in gesundheitsgefährdenden Stress um?
WEO – Eine neue Art von Fitness-App?
Die Stressgefahr, die von Fitness-Apps ausgeht, erkennt auch das Softwareentwickler-Duo Sagacity, das aus dem Ehepaar Garima und Saurabh Mittal besteht. Die beiden arbeiten daher seit ca. anderthalb Jahren an einer neuen App, die den Aspekt der gegenseitigen Unterstützung über den des Wettbewerbs stellen soll. WEO heißt die Applikation. Das steht für „With Each Other“ (zu Deutsch: miteinander) und betont die Wichtigkeit der Community als Dreh- und Angelpunkt der Anwendung. Die Grundidee ist es, Gruppen von vertrauten Personen – das heißt Familien, Freundeskreise, oder Personen mit gleichen Interessen – zusammenzuführen, die sich gegenseitig beim Erreichen ihrer Gesundheitsziele unterstützen. Dazu teilen Nutzer*innen sowohl ihre Zielsetzungen als auch Aktivitätsdaten innerhalb entsprechender digitaler Gruppen in der App.
Blumen als intuitives Symbol
Konzepte dieser Art sind bereits aus anderen Tracking-Apps bekannt. Neu sei die intuitive visuelle Gestaltung: Eine Blume symbolisiert ein individuelles Gesundheitsziel. Arbeitet man erfolgreich auf dieses hin, erblüht sie. Wird man dagegen nachlässig, verwelkt die Blume.
„Das macht es einem sehr leicht, den gesundheitlichen Zustand einer anderen Person zu verstehen. Man braucht dazu kein Expertenwissen“, so Saurabh von Sagacity.
Gerade im Zusammenhang mit komplexeren Daten, wie Blutzuckerwerten oder Blutdruck, ermögliche dies den einfachen Austausch über Gesundheitsthemen und Unterstützung seitens der anderen Gruppenmitglieder im Bedarfsfall. Aber auch das Nicht-Erreichen eines simplen Schrittziels kann darauf hinweisen, dass es einer Person gerade psychisch nicht gut geht, sie etwa im Stress ist. Ist z.B. die zum Ziel „5000 Schritte am Tag“ gehörende Blume eines Familienmitglieds verwelkt, kann man die betreffende Person gezielt darauf ansprechen und motivieren bzw. unterstützen.
Gesundheitsdiskurs ans Licht gebracht
Überhaupt biete die Gesundheits-Anwendung eine Plattform für das Gespräch über Themen, die in alltäglichen Gesprächen eine untergeordnete Rolle spielen. Sogar Personen, die beispielsweise im familiären Umfeld eng miteinander verbunden sind, sprächen häufig nicht über gesundheitsbezogene Thematiken – und das, obwohl sie so wichtig seien. Im Rahmen einer Testversion der App im Jahr 2021 hätten sich genau solche Gespräche vermehrt ergeben.
“Von vielen Leuten, die wir kannten, wussten wir vorher gar nicht, dass sie zum Beispiel jeden Tag X Kilometer laufen, oder viel Yoga machen.“, sagt Garima.
WEO bringe solche gemeinsamen Interessen ans Tageslicht. Dazu trage auch die geschützte Atmosphäre der privaten Gruppen in der App bei. Nur von einem User explizit eingeladene Personen können einer Support-Community beitreten.
Saurabh Mittal erklärt: „Die App bietet ein sehr privates, sicheres Umfeld, in dem Gruppen geschlossen sind. Es ist nicht wie bei Instagram oder Facebook, wo jeder einfach jedem folgen kann.“
Die einem persönlich bekannten Gruppenmitglieder auf WEO stellten, so Saurabh, auch einen Gegenpol zu Fitness-Influencern in den Sozialen Netzwerken dar, bei denen man ja nie wisse, wie authentisch diese wirklich sind. Es sei einfach natürlicher, echten Menschen aus dem eigenen Umfeld zu folgen und sich von diesen motivieren zu lassen.
Persönliche Erfahrungen statt nüchterner Daten
Neben schlichten Aktivitätsdaten sollen Nutzer*innen die Möglichkeit haben, ihre Erfahrungen und Emotionen in Zusammenhang mit körperlichen Betätigungen gegenüber der Gruppe zu äußern. Nicht die Geschwindigkeit, die beim Joggen erreicht wurde, sei wichtig, sondern wie sich der Run angefühlt hat. Dann ginge es darum, herauszufinden, warum es beim einen Mal besser geklappt hat als bei einem anderen. Auch solche Fragestellungen können in den Communities diskutiert werden.
Trotzdem stehe nie der Wettbewerb mit anderen Nutzer*innen oder die Selbstdarstellung im Vordergrund, sondern Mitgefühl, Ermutigung und Unterstützung:
„Es geht nicht darum, sagen zu können: ‚Ich hab zwanzig Liegestütze gemacht und du nur zehn.‘ (…) Mit unterschiedlichen Menschen kommen auch unterschiedliche Fähigkeiten und Interessen. Auch das Alter spielt eine Rolle“, so Saurabh Mittal.
Alle müssen repräsentiert werden
Nicht nur Menschen verschiedener Altersgruppen sollen durch die Gesundheitsapp angesprochen werden. Generell spiele der Diversitätsaspekt eine große Rolle. So können sich Nutzer*innen auch einen Avatar erstellen, den man mit verschiedenen Hautfarben und sogar der eigenen Geschlechtsidentität personalisieren könne. Die duale Abfrage des biologischen Geschlechts nach weiblich und männlich sei immer noch ein Bestandteil vieler Fitness-Apps, da sie z.B. für die Berechnung von Kalorienverbräuchen gebraucht würde. In WEO hätten Garima und Saurabh aber einen Weg gefunden, dies zu umgehen:
“Die Idee ist, dass sich jeder inkludiert und willkommen fühlt. Und, dass alle einen Ort finden, an dem sie ihre Gesundheitsziele verfolgen können, ohne Wettbewerbsdruck und ohne sich auf irgendeine Weise eingeschränkt zu fühlen…”, so Garima.
Können Fitness-Apps also auch empowern?
Laut der oben erwähnte Studie der NUI Galway ja. Sie können aber auch das Gegenteil bewirken und zu gefährlichem obsessivem Verhalten führen. Welche der Tendenzen überwiegt, sei zum einen abhängig von der Motivation der jeweiligen Nutzer*innen. Wer über Fitness-Apps seine sportlichen Erfolge zur Schau stellen und soziale Bewunderung erhalten möchte, rutscht mit höherer Wahrscheinlichkeit in ein Zwangsverhalten ab. Andererseits begünstigen Apps, die Positivdarstellungen von Trainings in Form von geteilten Fotos etc. in den Vordergrund stellen, diese Negativfolgen. Solche die dagegen gegenseitige Unterstützung und schriftlichen Austausch über Aktivitäten fördern, können sich positiv auf die Psyche auswirken.
Wie die App WEO in dieser Hinsicht abschneidet – davon können Sie Studierende der Uni Tübingen bald selbst ein Bild machen. Ab Beginn des Sommersemesters 2022 wird die Applikation kostenlos zum Download zur Verfügung gestellt – wahrscheinlich über die Startseite des Hochschulsports.
Quellen:
Whelan, E. and Clohessy, T. (2021), „How the social dimension of fitness apps can enhance and undermine wellbeing: A dual model of passion perspective“, Information Technology & –People, Vol. 34 No. 1, pp. 68-92. https://doi.org/10.1108/ITP-04-2019-0156
https://www.radsport-rennrad.de/training/fitness-apps-psychische-gesundheit-studie/
persönliches Interview mit Garima und Saurabh Mittal, Tübingen, 02.03.2022.
https://blogs.timesofisrael.com/health-or-obsession/