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Erinnern an die Keupstraße – Ein Radiobeitrag, der Betroffenen rechter Gewalt gedenkt

Von Magdalena Gredel

Nicht gehört, nicht genannt, nicht erinnert: Betroffene rechter Gewalt bleiben oft unsichtbar – die mediale Aufmerksamkeit richtet sich an die Täter*innen, deren Namen und Taten überall bekannt sind. Im Rahmen eines Lehrforschungsseminars machen Masterstudierende der Universität Tübingen mit einem Radiobeitrag auf rechte Gewalt aufmerksam – und geben Betroffenen des 2004 verübten Anschlags in der Kölner Keupstraße eine Stimme.

Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru, Süleyman Tasköprü, Habil Kilic, Mehmet Turgut, Ismail Yasar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubasik, Halit Yozgat, Michèle Kiesewetter – Namen der Opfer des Nationalsozialistischen Untergrunds. Namen, die nicht genannt und nicht erinnert werden. Namen, zu denen die Gesichter und Schicksale unbekannt bleiben. Stattdessen gilt die mediale Aufmerksamkeit den Tätern: Eine Frau und zwei Männer, die als Trio jahrelang unentdeckt mordeten und zahlreiche Verbrechen begingen. Auch heute, neun Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU, liegt der Fokus auf deren Namen und Taten. Wieso bleiben die Stimmen der Betroffenen ungehört? Ist die Erinnerung unserer Gesellschaft rassistisch? Welche Rolle spielen Medien beim Erinnern und Vergessen an rechte Gewalt? Mit diesen Fragen hat sich das Lehrforschungsprojekt „Politiken der Erinnerung in (digitalen) Öffentlichkeiten“ des Masterstudiengangs Medienwissenschaft der Universität Tübingen beschäftigt. Mit einem Radiobeitrag erinnern die Studierenden an die Opfer des von der NSU verübten Nagelbombenattentats im Jahr 2004 in der Kölner Keupstraße. Das Doing Memory Projekt fand im Sommersemester 2020 unter der Leitung von Prof. Dr. Tanja Thomas und Tobias Fernholz statt.

Der Nagelbombenanschlag – wie Betroffene zu Tätern wurden

Bekannt als das Zentrum des türkischen und kurdischen Geschäftslebens des Einwandererviertels Mülheim in Köln, ist die belebte Keupstraße ein Ort des multikulturellen Zusammenkommens. Am 9. Juni 2004 explodierte eine mit 5 Kilogramm Sprengstoff und 800 Zimmermannsnägeln gefüllte Bombe mitten auf dieser Straße. Die Explosion hatte 22 Verletzte, vier Schwerverletzte und unzählige Traumatisierte zur Folge. Niemand kam ums Leben. Während die Menschen vor Ort schnell annahmen, dass es sich um eine rassistisch motivierte Tat handelte, schlossen die ermittelnden Behörden dies aus – und verdächtigten die Bewohner der Keupstraße und die Betroffenen des Anschlags selbst. Dem Nagelbombenanschlag ging bereits eine lange Mordserie der NSU voraus, bei denen ebenfalls Migrant*innen als Täter in den Fokus der Ermittlungen gerückt waren. Die Medien übernahmen unkritisch den Verdacht der Behörden: Der mediale Diskurs drehte sich um die Ermittlungen, die Täter, die Bombe und deren Zündungsmechanismus – nur  nicht um die Betroffenen. Auch die Veröffentlichung von Bildern einer Überwachungskamera, die den Täter zeigten, änderte die Richtung der Ermittlungen nicht. Erst sieben Jahre später, mit dem Tod der beiden Männer des Tätertrios, rechneten die Behörden den Anschlag der NSU zu.

(K)Ein Mahnmal zur Erinnerung

„Herzlich willkommen in der Keupstraße“ heißt es auf dem Schild an der Stelle, an der das Mahnmal zur Erinnerung an den Nagelbombenanschlag in der Keupstraße, Ecke Schanzenstraße in Köln Mühlheim erinnern sollte. Foto: Paulina Burtz.

Noch heute wirken Folgen des Anschlags spürbar nach: Initiativen, Künstler*innen, Demonstrationen, Veranstaltungen und wissenschaftliche Publikationen beschäftigen sich in Folge des Anschlags mit Rassismus und rechter Gewalt. Zu Gedenken des Nagelbombenattentats in der Keupstraße sollte ein Denkmal am Ort des Geschehens errichtet werden. Mit seinem interaktiven, multimedialen Entwurf gewann der Berliner Künstler Ulf Aminde im Jahr 2016 einen zu diesem Zweck ausgeschriebenen Wettbewerb. Das Mahnmal sollte seinen Platz an der Keupstraße, Ecke Schanzenstraße finden. Bis heute ist es nicht realisiert, da sich die Interessengemeinschaft Keupstraße, die Stadt Köln und die Eigentümer des Grundstücks nicht einigen. In der medialen Debatte um das Mahnmal kommen erneut nur Sprecher der Stadt und Behörden zu Wort. „Bei Erinnerungskultur muss man sich in das Opfer hineinversetzen. Viele schauen gar nicht hin, wollen nicht wissen, was los war und nicht wieder an etwas schuld sein“, erklärt Meral Sahin, Vorsitzende der IG Keupstraße. „Ein Denkmal bedeutet aber, wir möchten das richtig anpacken und beiseite tun.“ Auch der Künstler Ulf Aminde betont die Wichtigkeit der Gedenkstätte vor Ort am Eingang der Straße: „Das Mahnmal wird ein antirassistischer Gedenkort, der die Geschichte der Keupstraße erzählt. Es muss vor Ort erlebbar, nachvollziehbar und in Sichtweite zum Anschlag sein. Es soll ein Treffpunkt für Menschen sein, ein Herkesin Meydanı, ein Platz für alle, mit dem sich die Anwohner positiv identifizieren.“ Ein Lösungsansatz bleibt nach wie vor aus – wie auch die Möglichkeit, das Geschehene vor Ort erinnern und verarbeiten zu können. Die Debatte um das Denkmal symbolisiert den Kampf der Betroffenen um Anerkennung, Sichtbarkeit und einen Platz in der kollektiven Erinnerungskultur der Gesellschaft. Die Rolle des Mahnmals als Gedenkstätte vor Ort in der Keupstraße findet keine Relevanz – der Kampf gegen Rassismus und rechte Gewalt damit ebenso wenig.

Eine Radiosendung als Denkmal

In Erinnerung an die Betroffenen des Nagelbombenanschlags in der Kölner Keupstraße gestalteten die Studierenden des Seminars ein Doing Memory Projekt in Form eines Radiobeitrags. Im Laufe des Semesters befassten sie sich mit dem Verlauf und den Konsequenzen der Rassismus-Problematik in Deutschland aus der Perspektive von Migrant*innen und Betroffenen. Das Seminar setzte sich intensiv mit der Bedeutung von Medien für Erinnerungspolitik in postmigrantischen Gesellschaften auseinander und entwickelte selbstständig ein Konzept für mediales Erinnern in Form eines Radiobeitrags. Die Realisierung beinhaltete die Analyse der medialen Berichterstattung sowie die Recherche zum Thema, dessen Hintergründe und zu schon bestehenden Doing Memory Projekten. Es galt zudem, nach potenziellen Interviewpartner*innen zu suchen, Fragen zu entwickeln und die Interviews durchzuführen. Auch für den Schnitt, die Moderationstexte sowie für die Aufnahmen im Tonstudio war das Seminar verantwortlich.

Doing Memory – Betroffenen eine Stimme geben

Die Studierenden Hajera Sheikh und Christoph Regli beim Aufnehmen der Radiosendung im Tonstudio der Universität Tübingen. Foto: Hajera Sheikh.

Doch was erwartet die Hörer*innen der Sendung? Der einstündige Radiobeitrag mit dem Titel „Doing Memory und der NSU: Wer darf erinnern?“ wird am 04. November 2020 ab 14 Uhr im Freien Radio der Wüsten Welle über Radio Micro Europa ausgestrahlt. Vier Studierende führen als Moderator*innen durch die Sendung, während inhaltlich passende Lieder die Beiträge musikalisch untermauern. Zu Gast in der Sendung ist der Schauspieler Kutlu Yurtseven, der bei dem Anschlag vor Ort in der Keupstraße war. Mit dem Interviewpartner Ulf Aminde, der das Mahnmal entwarf, nähert sich der Radiobetrag dem Thema Erinnern an rechte Gewalt aus einer künstlerisch-ästhetischen Perspektive. Aurora Roudono liefert Einblicke in die künstlerische Arbeit mit Migration. Und Meral Sahin, Vorsitzende der IG Keupstraße, spricht über den Anschlag und über die Bedeutung einer Gedenkstätte in der Keupstraße. Der Autor Fabian Virchow erklärt zudem, warum Erinnern so wichtig ist und behandelt die Themen Erinnerungskultur in Bezug auf Rassismus und rechte Gewalt aus wissenschaftlicher Perspektive. „Was ich an diesem Projekt am meisten schätze, ist die Relevanz des Themas: rechte Gewalt“, gibt Hajera Sheikh, Studierende des Seminars und eine der Sprecher*innen der Radiosendung, zu denken. „Ein Thema auf Augenhöhe zu beleuchten, das Menschen mit Migrationserfahrung betrifft, und ihnen die Möglichkeit zu bieten, selbst zu sprechen, ist von äußerster Wichtigkeit. Genau das haben wir versucht zu erreichen.“

Erinnern an rechte Gewalt: Gemeinsam gegen Rassismus

Berühren. Erschüttern. Wachrütteln. Die Radiosendung hat genau das zum Ziel: Die Interviews, die Musik, die Nennung der Opfer und die Stimmen-Collage der Sendung geben Betroffenen rechter Gewalt durch die NSU einen Namen, eine Geschichte und ein Gesicht. Das Projekt sollte aus der Position des migrantisch situierten Wissens heraus entstehen und die plurale, postmigrantische Gesellschaft abbilden. Mit der Sendung erinnern die Studierenden an Opfer rechter Gewalt und machen neue Perspektiven sichtbar. Als Vermittlungsinstanz zwischen dem individuellen und dem kollektiven Gedächtnis soll sie Rassismus entgegenwirken, an Vergessenes erinnern und zusammen mit den Gästen eine ideale Erinnerungskultur und eine Zukunft ohne rechte Gewalt diskutieren. Es sollte eine Sendung entstehen, die Betroffenen Anerkennung und Sichtbarkeit gibt, die Bewusstsein schafft und zum Austausch auf Augenhöhe anregt. Eine Sendung, die den Betroffenen des Nagelbombenanschlags in der Kölner Keupstraße gedenkt – und ihnen eine Stimme gibt.

Unbedingt reinhören: Der Radiobeitrag ist am Mittwoch, den 4. November 2020 von 14 bis 15 Uhr im Freien Radio Wüste Welle 96,6 – Kabel: 97,45 Mhz zu hören und auch als Live Stream verfügbar. Mit diesem Link geht es direkt zur Radiosendung im Internet:

https://www.wueste-welle.de/broadcasts/livestream

Sendung verpasst? Über diesen Link zur Mediathek ist sie auch nach der Ausstrahlung verfügbar:

https://publikationen.uni-tuebingen.de/xmlui/handle/10900/109261