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DER RAUM EINER KUNSTAUSSTELLUNG IM ZEITALTER SEINER DIGITALEN REPRODUZIERBARKET

Von Wessam Minavi

Die täglich zunehmende Digitalisierung des alltäglichen Lebens beeinflusst auch den Bereich der Kunst. Die besondere Fertigkeit des Internets, die Dinge zu reproduzieren, vervielfältigt den Raum einer Kunstausstellung und löst ihn aus dem Bereich der Tradition ab.

„In allen Künsten gibt es einen physischen Teil, der nicht länger so betrachtet und so behandelt werden kann wie vordem; er kann sich nicht länger den Einwirkungen der modernen Wissenschaft und der modernen Praxis entziehen. Weder die Materie, noch der Raum, noch die Zeit sind seit zwanzig Jahren, was sie seit jeher gewesen sind.“
(Paul Valéry: Pièces sur l’art. Paris, p.103/104 (La conquête de l’ubiquitè) zitiert in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit von Walter Benjamin)

Seit Walter Benjamin im Jahr 1936 seine Abhandlung „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ publizierte, hat sich die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerkes und der jeweilige Raum seiner Ausstellung weiterentwickelt. „Die technische Reproduktion [des Raumes] ist [nicht] etwas Neues“ (Benjamin 11); er ist schon durch die Fotografie reproduzierbar geworden. Die digitale Reproduzierbarkeit des Raumes durch das Internet ist allerdings etwas Neues. Wenn die Schrift durch den Druck, die Grafik durch die Lithographie und die Bilder durch die Fotographie technisch reproduzierbar geworden sind, dann ist der Raum ebenso durch das Internet digital reproduzierbar geworden. Die digitale Reproduzierbarkeit des Raumes erweist sich deutlich durch das seit dem Beginn der Pandemie immer mehr im Vordergrund stehende Medium „Online-Kunstausstellung“. Ein aktuelles Beispiel ist FOAM TALENT 2020. Diese, seit 2007 jährlich vom Foam-Fotografiemuseum Amsterdam veranstaltete Fotografie-Ausstellung, hat 2020 aufgrund der Ausbreitung von COVID-19 im digitalen Format stattgefunden. Anstatt innerhalb des traditionellen Raumes des Museums, ist die Ausstellung innerhalb des Raumes des Internets vonstattengegangen. Wie sieht aber dieser digitale Raum aus? Ist er wie ein, an einem bestimmten Ort gebauten, Gebäude?

Vor dem Beginn, sowie während des Schreibens dieses Beitrags besuchte ich mehrmals die Foam Talent Ausstellung. Bei jedem Besuch befand ich mich in einem digitalen, aus Nullen und Einsen gemachten, Raum. Anders gesagt, befand ich mich in einem abstrakten, virtuellen und unkörperlichen Nicht-Raum, dessen Lokalität unfassbar war. Diese besondere Eigenschaft des Raumes des Internets, nämlich abstrakt, virtuell und unkörperlich, befähigt den Raum, sich zu reproduzieren, mit anderen Worten, die Kunstausstellung „wurde durch [das Internet] befähigt, sich zu reproduzieren und den Alltag räumlich zu begleiten“ (Benjamin 12). Nun können wir die von Walter Benjamin gestellte Frage aktualisieren, wieder stellen und versuchen, sie in einem neuen sozialen Kontext zu beantworten bzw. zu berücksichtigen: Wie wirkt die Reproduktionsfähigkeit des Internets auf den Raum der Kunstausstellung und ihrer überkommenen Gestalt zurück? (Benjamin13).

DAS VERFLÜSSIGEN DES EINMALIGEN DASEINS

Das Internet verflüssigt das Hier und Jetzt – das einmalige Dasein des Raumes eines Museums oder einer Galerie, indem es den materiellen Aspekt des Raumes reproduziert. Benjamin schrieb in seiner Abhandlung Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit: „noch bei der […] Reproduktion fällt eines aus: das Hier und Jetzt […] – [das] einmalige Dasein […]“ (Benjamin 13). Was durch das Internet reproduziert und daher verflüssigt wird, ist das einmalige bzw. originale Dasein des Gebäudes eines Museums; sein materieller Aspekt wird durch das digitale Reproduzieren atomisiert. Die aus Nullen und Einsen gemachten digitalen Teile bewegen sich dauernd durch das Internetnetzwerk und befinden sich gleichzeitig überall, wo es selbstverständlich einen Internetzugang gibt. Auf diese Weise, laut Benjamin, bringen sich die Dinge räumlich und menschlich näher: „Die Dinge sich räumlich und menschlich näherzubringen […]. Überwindung des Einmaligen jeder Gegebenheit durch die Aufnahme von deren Reproduktion“ (18). Das Foam-Fotografiemuseum Amsterdam befindet sich daher nicht mehr nur unter der offiziell eingetragenen Anschrift, sondern überall auf der Welt, wie zum Beispiel in meinem Zimmer oder in den Zimmern der Leser*innen dieses Beitrags – an einem beliebigen Ort, an dem die Besucher*innen sich während des Ausstellungsbesuchs befinden. Der Raum vervielfältigt sich: „die Reproduktionstechnik […] löst das Reproduzierte [nämlich den Raum] ab. Indem sie die Reproduktion vervielfältigt, setzt sie an die Stelle seines einmaligen Vorkommens sein massenweises“ (Benjamin 16). Was durch das Internet reproduziert wird, ist nicht nur der materielle Aspekt des Raumes, sondern auch sein immaterieller Aspekt.

DIE AKTUALISIERUNG DER AURA

Das Internet aktualisiert die Aura des Raumes eines Museums oder einer Galerie, indem es den immateriellen Aspekt des Raumes reproduziert. Laut Benjamin ist Aura „die Echtheit einer Sache […], ihre Einzigkeit […], [inbegriffen ist] alles von Ursprung her an ihr Tradierbaren, von ihrer materiellen Dauer bis zu ihrer geschichtlichen Zeugenschaft“ (15). Was die Geschichte, die Tradition oder die Aura des Raumes des Fotografiemuseums ausmacht, sind die Geschichten der einst von dem Geschäftsmann Carel Joseph Fodor im 19. Jahrhundert besessenen Gebäude des Foam-Fotografiemuseums Amsterdam, die Renovierung der Gebäude von der Firma Benthem Crouwel im Jahr 2001, die von den berühmten Künstler*innen, wie zum Beispiel Henri Cartier-Bresson, Richard Avedon, Helmut Newton, Masahisa Fukase, Gordon Parks, André Kertész, Seydou Keïta, Alex Prager, Brassaï, Vivian Maier, Alec Soth und vielen weiteren in diesem Museum ausgestellte Kunstwerke bzw. Kunstaustellungen und die Besucher*innen jeder einzelnen Ausstellung. Die digitale Reproduktion „löst das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab. […], indem sie der Reproduktion erlaubt, dem Aufnehmenden in seiner jeweiligen Situation entgegenzukommen, aktualisiert sie [die Aura der Reproduktion]“ (Benjamin 15). An dem Prozess des Ablösens, sowie an der Aktualisierung der Aura beteiligen sich viele Faktoren: der Raum, in dem sich die Besucher*innen während eines digitalen Museumsbesuchs befinden; die technischen Spielereien, womit die Besucher*innen das Museum besuchen; der Internetzugang, der das Besuchen überhaupt ermöglicht und die Internetseite, auf der das Museum und die Ausstellung zu finden sind. Dies sind die intermediären Faktoren, die zwar die Dinge räumlich und menschlich näherbringen (Benjamin 18), aber die Aura von den Dingen entfernen. Deshalb lösen die intermediären Faktoren die Aura des Raumes des Museums aus dem Bereich der Tradition ab und aktualisieren sie auf eine neue Tradition.

Obwohl Walter Benjamins Abhandlung Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit in einer Zeit geschrieben wurde, in der noch kein Internet zur Verfügung stand, enthält sie einige wichtige Schlüsselbegriffe, wie „das Hier und Jetzt“, „das einmalige Dasein“ und „die Aura“, die uns helfen können, die Kunst, das Kunstwerk, die Kunstausstellung und ihren jeweiligen Raum in einer durch das Internet vernetzten und digitalen Gesellschaft heute besser zu verstehen. Alltäglich ermöglicht das Internet das Reproduzieren des Raumes (einer Kunstausstellung). Durch das Reproduzieren wird der jeweilige Raum sowohl verflüssigt als auch aktualisiert.

Quellen: