Bil: Pexels

Coming Out in Age

Der Umgang mit Homosexualität im Alter

Von Hanna Schneider

Was haben die Seriencharaktere Kevin aus Riverdale, Eric aus Sex Education und Emily aus Pretty Little Liars gemeinsam? Richtig, sie sind alle noch relativ jung – und homosexuell. Das ist heutzutage nicht mehr unüblich. In vielen Serien sind mittlerweile junge homosexuelle Charaktere vertreten. Ältere Figuren sind dagegen die Ausnahme. Doch woran liegt das? Ist Homosexualität im Alter tatsächlich ein gesellschaftliches Tabuthema? Ein Einblick in die Thematik im Kontext der Netflix-Serie Grace and Frankie.

Um die Fragen zu beantworten, müssen wir in der Geschichte ein Stück zurückgehen. Die Strafbarkeit von Homosexualität geht aus dem spätantiken Sündendenken hervor und führte bis ins 18. Jahrhundert meist auf den Scheiterhaufen[1]. Das Strafmaß milderte sich zwar teilweise während der Aufklärung, von einer Straffreiheit war jedoch noch lange keine Rede. Im Reichsstraf­gesetzbuch wurde 1872 schließlich der Paragraf 175 eingefügt, der die Beziehung zwischen zwei Männern offiziell stigmatisierte und illegalisierte[2].

„Widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren begangen wird, ist mit Gefängniß zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.“ – Paragraf 175 StGB

Verschärft wurde der Paragraf während der NS-Zeit, die in der Geschichte der Homosexualität in Deutschland besonders prägend war. Ein bloßer Verdacht reichte schon aus, um mit bis zu zehn Jahren Konzentrationslager bestraft zu werden. Tausende Homosexuelle, die nicht dem Rollenbild der nationalsozialistischen Ideologie entsprachen, wurden dort ermordet. [3]  Jedoch blieb Homosexualität laut Paragraf 175 auch nach 1945 noch eine strafbare Handlung. Vor allem in den 50er-Jahren hielt man Homosexualität aus Angst vor gesellschaftlicher Ächtung und strafrechtlicher Verfolgung geheim. Nach einem gesellschaftlichen und sozialen Wandel durch die sexuelle Revolution in den 70er Jahren wurde Paragraf 175 schließlich erst im Jahr 1994 gestrichen.[4] 

In Deutschland wurden seit Kriegsende etwa 50 000 Männer nach § 175 verurteilt – unter anderem zu Haftstrafen.[5] Bild: Pixabay

Auf Grundlage des Paragrafen 175 wurde im Jahr 1961 auch ein damals 16-jähriger Tübinger verhaftet. Helmut Kress, der als Auszubildender bei der Stadtverwaltung Tübingen tätig war, kam wegen eines Liebesbriefes an einen anderen Mann ins Jugendgefängnis und verlor später seinen Arbeitsplatz. Der damalige Oberbürgermeister Hans Gmelin brachte den Brief seiner Zeit höchstpersönlich zur Anzeige. 60 Jahre später entschuldigte sich der derzeitige Oberbürgermeister Boris Palmer dafür bei Helmut Kress. „Es war Unrecht, was ihm damals angetan wurde. Das hat tiefe Spuren in seinem Leben hinterlassen. Sein Schicksal macht uns heute sehr betroffen“, so Palmer auf einem Empfang zu Ehren von Helmut Kress am 23. Juni 2022.[6]

Zahlen und Daten zum Thema „Homosexualität im Alter“ sind kaum zu finden. 2005 waren ca. 4% der Bevölkerung in Deutschland über 60 homosexuell, das sind mehrere Hunderttausend.[7] Bild: Unsplash

Lesben und Schwule, die heute im hohen Alter sind, bringen diese biografischen Prägungen mit. Die strafrechtliche Verfolgung und die gesellschaftliche Ächtung führten dazu, dass viele von ihnen gezwungen waren ein Doppelleben zu führen. Sie haben Jahrzehnte des Versteckens hinter sich, in denen sie zum Teil unter hohem persönlichen Druck standen. Ein Outing im späten Alter ist deshalb nicht einfach. Ein spätes Outing hat meistens übrigens nichts damit zu tun, dass jemand seine wahre Sexualität erst spät erkennt. „In der Regel ist die eigene Homosexualität schon früh bekannt, und es gibt über Jahre ein Doppelleben mit Ehe und Familie“, bestätigt Markus Schupp, Koordinator für schwule Seniorenarbeit im Sozialwerk für Lesben und Schwule Köln. [8]

Ein Blick in die Netflix-Serie Grace and Frankie

So geht es auch den Charakteren Robert und Sol in der Netflix-Serie Grace and Frankie. Die beiden Freunde und Kanzleipartner eröffnen mit Mitte 70 ihren Ehefrauen Frankie und Grace, dass sie schwul sind und – der fast noch größere Schock für die Frauen – seit 20 Jahren eine Affäre miteinander haben. Nun möchten sie ihre Frauen verlassen, um zu heiraten und die letzten Jahre ihres Lebens endlich gemeinsam verbringen zu können.

Als eine der wenigen Serien und Filme beschäftigt sich diese US-amerikanische Comedy-Fernsehserie mit dem Thema Homosexualität im Alter. Vor allem in der ersten Staffel geht es darum, wie die beiden Frauen lernen, mit dem Outing ihrer Ex-Männer umzugehen. Dabei hat besonders Grace damit zu kämpfen, wie ihr Umfeld das Outing aufnimmt. Bisher war sie darauf bedacht, nach außen hin das perfekte Paar und die perfekte Familie abzugeben und ist nun besorgt um ihre gesellschaftliche Stellung. Ungewöhnlich ist diese Reaktion nicht, wenn man Schupp glaubt. Frauen, die ein sehr traditionelles Rollenbild gelebt haben, fallen nämlich besonders unsanft und abrupt aus dieser Rolle heraus.[9] Die etwas unkonventionelle Frankie dagegen ist vor allem tief getroffen von dem Verrat und Betrug ihres Seelenverwandten Sol.

Als Zuschauender erfährt man aber auch wie es den Männern selbst ergeht. Wie von Schupp als durchaus typisch beschrieben, führten auch Robert und Sol lange ein Doppelleben. Die Angst vor den Reaktionen hemmte sie, früher zu ihrer Homosexualität zu stehen. Sich nicht zu outen und das gewohnte Leben weiterzuführen, war schlichtweg einfacher und bequemer. Bei Sol spielte zudem seine aufrichtige Liebe zu Frankie eine Rolle. Ihm fiel es wesentlich schwerer Frankie zu verlassen, als Robert seine Ehe mit Grace aufzugeben. Nach ihrem Outing fühlen sich die beiden zwar befreit, doch vor allem Sol macht sich Vorwürfe: „Ich fühle mich extrem schuldig“, sagt er in einer Szene zu Robert. „Weil ich jemanden, den ich sehr liebe, tief verletzt habe. Und weißt du was das Ganze noch schlimmer macht? Ich bin so verdammt glücklich.“[10]

Der Serie gelingt es, dem Zuschauenden einen echten, ehrlichen Einblick in das Leben dieser Familien mit all ihren Ecken und Kanten zu geben und Homosexualität im Alter nicht als Tabuthema darzustellen. Das wird vor allem daran deutlich, dass es im Verlauf der Serie nicht mehr bewusst thematisiert wird. Wie bereits erwähnt spielt die Homosexualität beziehungsweise das Outing von Robert und Sol vor allem zu Beginn der ersten Staffel eine noch recht große Rolle, wird dann aber zur Normalität. Mit der Zeit entwickelt sich eine Art Patchwork-Familie, die nach der Überwindung des ersten Schocks gut harmoniert und zusammenhält. Frankie verheiratet in der zweiten Staffel sogar Robert und Sol. Wenn man bedenkt was alles passiert ist – immerhin haben Robert und Sol ihren Frauen 20 Jahre lang eine Affäre verheimlicht – ist es jedoch auch etwas unrealistisch, dass alle so gut miteinander auskommen. Sicherlich würden nicht alle Frauen und Familien so auf einen derartigen Vertrauensbruch und ein Outing reagieren. In einem weiteren Punkt trifft die Serie die Realität vermutlich ebenfalls nicht ganz so gut. Und zwar outen sich Robert und Sol, um anschließend eine gemeinsame Beziehung zu führen. Häufig sind ältere Homosexuelle nach einem späten Outing jedoch einsam. Anschluss zu finden sei im Alter als Homosexueller nicht so einfach wie in jungen Jahren, in denen sich der Kontakt meist über die Sexualität anbahnt, so Marco Pulver vom Netzwerk Anders Altern der Schwulenberatung in Berlin[11].

Trotzdem schafft die Serie etwas, was vielen anderen noch nicht gelungen ist: Ältere homosexuelle Charaktere als Hauptfiguren zu zeigen und deren Sexualität als normal und selbstverständlich in der Serie einzubauen. Das gelingt teilweise nicht einmal Serien oder Filmen, die die Homosexualität von Jugendlichen thematisieren. Gelegentlich wird nämlich auch dort die Homosexualität immer noch als etwas „Verbotenes“ behandelt und ist mit Versteckspielen verbunden. Die Darstellung von Homosexualität in Filmen und Serien als etwas, das vollkommen in Ordnung und gewöhnlich ist  – egal in welchem Alter –, ist aber unter anderem deshalb wichtig, da der Großteil der Bevölkerung persönlich kaum Kontakt zu homosexuellen Menschen hat. In Berührung mit dem Thema kommen die meisten also vor allem über die Medien, die einen entscheidenden Einfluss auf die Einstellungen dazu haben, so der Lesben- und Schwulenverband in Deutschland[12]. Netflix, Amazon Prime und Co sollten also ihre Chance nutzen und durch die Integration älterer homosexueller Charaktere zu mehr Sichtbarkeit und Toleranz in der Gesellschaft beitragen. Die Vergangenheit lässt sich nicht mehr ändern, wie wir heute mit Homosexualität umgehen aber schon.