Was sind Algorithmen und was haben sie in der Medienwissenschaft verloren?

Von Daniela Gjuraj

Der Algorithmus hat längst den kleinen Kreis der Informatik und Computerlinguistik verlassen und seinen Weg in aller Munde gefunden. Er wird nun nicht nur interdisziplinär erforscht und so z. B. von Philosoph*innen und Informatiker*innen gleichermaßen untersucht, sondern spielt auch im alltäglichen Leben, weit weg von den Hallen der Universität, eine enorm wichtige Rolle – so wichtig, dass er uns ironischerweise beinahe nicht auffällt, weil kaum ein automatisierter Ablauf mehr ohne ihn funktioniert. Aber was genau sind Algorithmen, wie funktionieren sie und wieso hat die Thematik ihren Weg zu einem medienwissenschaftlichen Blog gefunden?

Giftgrüner Buchstabensalat, durchzogen von einer Menge Zahlen und unkenntlichen Zeichen, die sich in Sekundenschnelle ändern. In Richtung unten und auf schwarzem Grund bewegen sie sich auf und ab, machen dabei piepsende Geräusche, ein Tippen ist im Hintergrund vernehmbar – bis hereingezoomt wird und sich der Buchstabensalat zu den Wörtern THE MATRIX formiert (vorab: In diesem Artikel wird es nicht um die weltbekannte Opening-Szene des Films „The Matrix“ von Lana und Lilly Wachowski aus dem Jahr 1999 gehen).

Viele Menschen assoziieren aber ein solches Szenario mit dem Begriff des Algorithmus und wissen sonst nicht so wirklich, was sie mit diesem Begriff anfangen sollen. In einer repräsentativen Umfrage der Bertelsmann-Stiftung gaben Dreiviertel der Befragten in Deutschland an, den Begriff einmal gehört zu haben; nur 10% wussten genau, wie Algorithmen funktionieren. Das sind erschreckende Zahlen, vor allem wenn man bedenkt, wie weitreichend das Anwendungsfeld von Algorithmen ist.

Was sind Algorithmen und wo findet man sie?

Wissenschaftlich ausgedrückt sind Algorithmen Regeln bzw. auch mathematische Formeln, die auf die Lösung einer Aufgabe abzielen. Der Begriff wird heutzutage über den bloßen Rechenvorgang ausgeweitet und bezieht nun auch die Umsetzung eines Rechenmodells in ein technologisches Endprodukt, das für die Nutzung durch Endanwender*innen konzipiert ist, mit ein. Sie verlangen nach bestimmten Klassifizierungen und Zielvariablen und genauen Handlungsanweisungen.

Algorithmische Entscheidungssysteme funktionieren durch zwei Algorithmen: der erste lernt auf Basis von Trainingsdatensätzen, identifiziert Muster und leitet daraus Regeln für eine Kategorisierung ab; der zweite Algorithmus wendet die erlernten Regeln an. Einfacher gesagt bedeutet das, dass Algorithmen eine Handlungsanweisung eingespeist bekommen (z. B. durch Trainingsdatensätze) und dann das machen, was ihnen die Anweisung befiehlt.

Bild: Stephen Dawson auf www.unsplash.com

 

 

 

 

 

 

 

Darauf aufbauend entscheiden sie automatisiert über beispielsweise:

  • Ergebnisreihenfolgen bei Suchmaschinen
  • Produktempfehlungen und Preise in Onlineshops
  • Einschätzung der Kreditwürdigkeit
  • Personalisierte Werbung
  • Dating-Vorschläge in der Singlebörse
  • Welche Beiträge und Accounts auf Social Media angezeigt werden
  • Erstellung von Wettervorhersagen
  • Auswahl von individualisierten Nachrichten und Meldungen, die angezeigt werden

 

Was macht Algorithmen aus?

Man sagt Algorithmen nach, effizienter, leistungsfähiger, skalierter und frei von kognitiver Verzerrung zu sein, weshalb sie sehr beliebt im Einsatz als beratende Entscheidungsunterstützungssysteme sind. Sie nehmen uns eine Menge lästige Sortierarbeit ab und können darüber hinaus äußerst nützlich sein. Da sie oft im Hintergrund agieren, empfinden wir sie nicht als störend. Jedoch sind all diese Vorteile nicht unbedingt so vorteilhaft, wie sie zunächst erscheinen, denn Algorithmen sind einflussreicher, intransparenter und unsichtbarer als man glaubt.

Einflussreich: Algorithmen sind ein starker Filter zwischen den Informationen des großen Internets und dem kleinen Teil, den man selbst durch sie davon zu sehen bekommt. Das kann einen enormen Einfluss auf die persönliche Meinungsbildung und die Wahrnehmung der Welt haben.

Intransparent: Algorithmen funktionieren wie eine Art Blackbox. Sie werden mit Informationen gefüttert, verarbeiten diese und speien ein Endprodukt wieder aus. Wie er im Zwischenschritt verarbeitet, ist jedoch ungewiss und rückwirkend nicht rekonstruierbar. Niemand weiß also, was der Algorithmus mit den Informationen macht.

Unsichtbar: Algorithmen sind auf den ersten Blick nicht sichtbar und oft ist uns auch überhaupt nicht bewusst, dass ein Algorithmus zum Einsatz kam. Viele Menschen sind erstaunt, wenn sie erfahren, dass Algorithmen z. B. auch bei der Planung von Polizeieinsätzen verwendet werden (sie berechnen Risikogebiete), Unternehmen bei der Bewerber*innenauswahl helfen (sie sortieren anhand bestimmter Kriterien Bewerbende aus) oder auch genutzt werden, um das Risiko einzuschätzen, mit dem Straftäter*innen rückfällig werden könnten.

Warum sind sie in der Medienwissenschaft relevant?

„Man, jetzt habe ich auf Instagram einen Post mit Werbung einer Schmuckfirma geliket und jetzt sehe ich nur noch Schmuck in meinem Feed!“ – diese, oder eine ähnliche Situation ist uns bestimmt allen schon auf Social Media passiert.

Algorithmen sind dafür verantwortlich, dass wir, obwohl wir mehreren hundert Menschen folgen, trotzdem nur die Posts der gleichen 30 Leute zu Gesicht bekommen. Der Algorithmus hat berechnet, dass wir diese Leute am interessantesten finden – weil wir in der Vergangenheit bei deren Posts häufig gestoppt, nachgelesen, geklickt, geliket, geteilt und kommentiert haben. Je mehr Interaktion es zwischen zwei Nutzer*innen gab, umso höher bewertet der Algorithmus das Interesse zwischen diesen beiden Personen.

Scheint auf den ersten Blick cool – der Algorithmus dient hier als „Vorkoster“, der alles aussortiert, was uns nicht interessiert. Da soziale Medien darauf ausgerichtet sind, viel öffentliche Kommunikation zu erzeugen und auch davon leben, dass Menschen viel Zeit auf ihnen verbringen und so hohe Einnahmen generieren, schafft man es nur durch hohe Interaktion und viele Postings, den Algorithmus dazu zu bringen, die Sichtbarkeit des Profils zu erhöhen.

Ergo: Soziale Netze schaffen mit ihren Algorithmen eine Spirale, die einen förmlich einsaugt und dazu verleitet, viel Zeit auf ihnen zu verbringen. Hat man die Social Media App gerade nicht offen, reagiert der Algorithmus direkt mit Push-Benachrichtigungen, um die Aufmerksamkeit zum sozialen Netzwerk zurückzuleiten.

Bild: Camilo Jimenez auf www.unsplash.com

Und nun?

Algorithmen auf Social Media analysieren und beobachten unser Nutzungsverhalten. Fällt dem Algorithmus auf, dass eine Nutzerin oder ein Nutzer gerne Beiträge über den Nahostkonflikt kommentiert, liket oder teilt, dann macht das etwas mit ihm – und er fängt an, fleißig zu filtern und auszusortieren, bis er nur noch Beiträge anzeigt, die den geliketen Beiträgen ähneln. Klingt gut, aber auf Dauer wird das ganz schön einseitig. Gerade wenn es um politische Themen geht (aber natürlich auch im Zusammenhang mit anderen Themen), bleibt einem so die Vielfalt des Themas vorenthalten und verborgen. Der Algorithmus schert sich nicht darum, der eigenen Position auch Opposition entgegenzuhalten und Meinungspluralität zu fördern. Für den Algorithmus ist wichtig, wie viel Resonanz eine Nachricht erfährt, wie gut sie bei der Masse ankommt. Ob ihr Inhalt der Realität entspricht oder nicht, könnte ihm nicht egaler sein.

In Zeiten des Zeitungssterbens und der „mobilen Totalindividualisierung der medialen und kommunikativen Welt“ (Stöcker/ Lischka 2018) entscheidet der Algorithmus die politische und öffentliche Agenda, im Gegensatz zum Journalismus früher. Da emotionalisierende Nachrichten durch ihren Empörungsfaktor häufiger geklickt werden als sachliche, gelangen diese so durch den Algorithmus an noch mehr Aufmerksamkeit. Problematische Phänomene wie Filterblasen, Fake News und Hate Speech werden so massiv verstärkt, während gleichzeitig das Vertrauen in den kritischen, seriösen und unabhängigen Journalismus immer weiter verloren geht. Geprüfte Quellen laufen Gefahr, in einer Flut aus von Algorithmen „gepushten“ Meldungen unterzugehen.

Fazit

Algorithmen machen uns oft das Leben leicht, jedoch dürfen ihre Gefahren nicht unterschätzt werden. Es ist wichtig, selbst daran zu denken, auch aktiv „die andere Seite“ anzuschauen, um sich vom Algorithmus nicht in ein einseitiges Weltbild zerren zu lassen. Hier gilt die Devise: lieber einen zweiten Blick auf alles werfen. Der Algorithmus ist nicht so neutral und wertfrei, wie er gerne dargestellt wird.

Quellen und weiterführende Links:

  • Fischer, S., Petersen, T. (2018). Was Deutschland über Algorithmen weiß und denkt: Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage. Bertelsmann Stiftung. https://www.bertelsmann-stiftung.de/index.php?id=5772&tx_rsmbstpublications_pi2%5bdoi%5d=10.11586/2018022
  • Heesen, J., Reinhardt, K., & Schelenz, L. (2021 in Druck). Diskriminierung durch Algorithmen vermeiden: Analysen und Instrumente für eine demokratische digitale Gesellschaft. In: Gero Bauer, Sebastian Engelnmann, Lean Haug, Maria Kechaja (Hrsg.), Diskriminierung/ Antidiskriminierung (S.1-17). Bielefeld: transcript. Herder, J. (2018). Regieren Algorithmen? Über den sanften Einfluss algorithmischer Modelle. In: Resa Mohabbat Kar, Basanta Thapa, Peter Parycek (Hrsg.), (Un)berechenbar? Algorithmen und Automatisierung in Staat und Gesellschaft. https://www.oeffentliche-it.de/publikationen/unberechenbar
  • Prietl, B. (2019). Algorithmische Entscheidungssysteme revisited: Wie Maschinen gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse reproduzieren können. Feministische Studien, 37(2), https://doi.org/10.1515/fs-2019-0029
  • Rößner, S. (2019). Wie Algorithmen deine Social Media Nutzung beeinflussen. Webcare +, https://webcare.plus/algorithmen-social-media/. Stöcker, C., Lischka, K. (2018). Wie algorithmische Prozesse Öffentlichkeit strukturieren, in: Resa Mohabbat Kar, Basanta Thapa, Peter Parycek (Hrsg.), (Un)berechenbar? Algorithmen und Automatisierung in Staat und Gesellschaft. https://www.oeffentliche-it.de/publikationen/unberechenbar