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Vom Internet, der Kalkulierbaren Unkalkulierbarkeit und was das mit Schmetterlingen zu tun hat

Von Magdalena Heckner

Ein Flügelschlag in Brasilien und ein Wirbelsturm folgt in Texas? – Ein Mausklick und mein (oder vielleicht auch dein) Leben macht eine 180-Grad-Wende. Oder doch nicht? 

Eines scheint klar: Ich weiß, dass ich nichts weiß, fast so wie Sokrates auch. Nur spricht dieser sicherlich nicht über das Internet. Wohl aber der Medienwissenschaftler und Professor Bernhard Pörksen, wenn er über „Kalkulierbare Unkalkulierbarkeit” und dem „Digitalen Schmetterlingseffekt“ spricht.

Sanfte Flügelschläge und rasante Wirbelstürme – der Schmetterlingseffekt

Vom Schmetterlingseffekt spricht man in der Chaostheorie, wenn innerhalb einer Wirkungskette eine noch so kleine Ursache eine große Wirkung nach sich zieht. Das Bild eines Schmetterlings taucht auf, welcher in Brasilien sanft seine Flügel schwingt und dadurch einen Wirbelsturm in Texas verursacht. Wie viel ist dran? – Ich weiß es nicht. Fakt ist aber, dass gerade in komplexen Systemen, wie dem Wetter, im Falle des Schmetterlings, aber auch im Verkehrssystem oder sogar nur bei einem Würfelzug bereits die kleinsten Änderungen eines Elements das Endergebnis mit beeinflussen. Nicht umsonst ist das Spiel „Mensch ärgere dich nicht” ein reines Ärgernis – oder hast Du es schon einmal geschafft, den Würfelzug so zu rekonstruieren, dass endlich die Sechs fällt?

Der Autor Matt Haig beschreibt in seinem Buch „Notes of a Nervous Planet”, wie der Titel bereits sagt – unsere Welt als Nervensystem. Wie kommt er dazu?

Die Erde ist durch das Internet miteinander vernetzt. Ebenso wie unser Gehirn mit unserem Fuß verbunden ist und Signale hin- und hersenden kann, ist heutzutage Deutschland mit Afrika verknüpft.

Wir leben sozusagen in einem dynamischen System, von dessen Ordnung wir bislang nur wenig sagen können.

Digitale Schmetterlinge und die Kalkulierbare Unkalkulierbarkeit

Wer hätte gedacht, dass die Notlüge eines 13-jährigen Mädchens, von südländisch aussehenden Männern geschlagen und vergewaltigt worden zu sein, darin mündet, dass Russlands beliebtester TV-Sender von einer „neuen Ordnung in Deutschland” berichtet, in welcher sich die Bürger*innen durch den Migrantenstrom nicht mehr sicher fühlen könnten? Alles nur, weil das Mädchen eine Nacht verbotenerweise außerhaus geschlafen hatte und dies vor ihrer Mutter nicht zugeben wollte. Ohne Medien und deren Dynamik aber niemals der Grund für solch eine Informationswelle.

Wer kann voraussagen, dass ein ironisch gemeintes Bild auf einem Soldatenfriedhof einen solchen Shitstorm auf Facebook auslösen kann, dass nichts als Existenzängste übrigbleiben. Alles nur, weil neben dem „Silence Please” Schild so getan wurde, als würde man schreien. Ein kleiner Scherz unter Freunden, welche hin und wieder neben „Do not Smoke”- Hinweisen eine Zigarette in die Kamera halten.

In einer digitalisierten Welt scheinen viele zu vergessen, dass Facebook, Twitter, Instagram und jede andere im Internet auffindbare (Social-Media-)Seite, Spuren hinterlässt. Spuren, deren Reichweite für uns unbegreifbar sind.

Genau aus diesem Grund spricht der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen in seinem Buch „Die Große Gereiztheit” auch über den Effekt der Kalkulierbaren Unkalkulierbarkeit. Wir wissen, dass solch ein Foto einen Shitstorm auslösen kann. Wir wissen aber auch, dass dies nicht zwingend der Fall sein muss. Alles, was wir sagen können ist, dass das Internet schnell ist. Dass ein Klick tausend weitere oder eben gar keinen Klick auslösen kann. Oder auch, dass wir in einem Netzwerk leben, in welchem ebenso viele Gefahren wie Chancen auf uns lauern.

Der Digitale Schmetterlingseffekt ist es also, vor welchem wir uns hüten müssen – richtig?

Über Chancen und Lichtblicke in einem ungeordneten System

#wohinmüssenwir – die Jugend und ihre Antworten auf Fragen der modernen Zeit. Foto: Magdalena Heckner.

Wir leben wohl nicht nur in einer Welt, in welcher wir nicht abschätzen können, wie Gesendetes beim Empfänger ankommt und was es auslösen kann. Zusätzlich sind wir damit konfrontiert, dass überall und ständig irgendeine neue Information veröffentlicht wird. Ich beispielsweise weiß nicht nur, was eine Grundschulfreundin heute Morgen in Nürnberg gefrühstückt hat, sondern auch, dass es bei meiner Mutter am Bodensee mal wieder regnet. Neben diesen Informationen konnte ich außerdem in Erfahrung bringen, dass Trump die Wahl verloren hat und zerquetschte Bananen tendenziell ein sehr guter veganer Eierersatz sind. Dafür musste ich weder den Raum noch das Medium wechseln.

Wir haben demnach nicht nur die Möglichkeit, Informationen in die Welt hinauszuschicken, sondern sind zugleich ständige Empfänger*innen. Die Welt scheint schneller, komplexer und anstrengender zu sein als noch vor ein paar Jahrzehnten. Wie sollen wir mit ihr fertig werden?

Der Medientheoretiker und Autor Sascha Lobo kennt eine Antwort: Die Welt ist überhaupt nicht komplexer geworden!

Was Lobo damit meint, ist schlicht die Tatsache, dass die Welt schon immer komplex war. Nur haben wir jetzt die Mittel, sie in ihrer gesamten Komplexität abzubilden und durch ein winziges Gerät zu bündeln. Die Tatsache, dass nun alles sichtbar geworden ist, stellt die einzig wirkliche Veränderung dar. Wir können sehen, dass Ironie missverstanden wird. Sehen, wie ein kleines Mädchen ihre Mutter belügt oder eben, was Mama gefrühstückt hat. Jedes banale Detail ist in irgendeiner Form abbildbar und wird meist auch abgebildet.

Doch zum Glück sieht Lobo neben all der Überforderung durch die neue Sichtbarkeit auch Lichtblicke.

Lichtblicke, die zu großen Teilen aus der Jugend bestehen. Die Jugend, welche in die Medienwelt mit all ihrer Komplexität hineingeboren wurde. Eine Generation, welche Komplexität als Normalität wahrnimmt, welche nie etwas anderes gekannt haben. Doch vor allem eine Generation, welche bereits in jungen Jahren ein Gespür dafür entwickeln konnte, was im Netz funktioniert. Was richtig und was falsch ist. Wie real Phänomene wie Cybermobbing sein können und wie man sich am besten im Netz organisiert.

Genau die Jugend ist es ja, die Medien nutzt – für ihre Zwecke. Für all die immer schärfer wahrnehmbaren Probleme der Welt, kennt die Jugend zwar vielleicht noch keine Lösung – aber bildet Gemeinschaft; Zusammenhalt.

Bewegungen, wie „Fridays For Future”, spiegeln den Kampfgeist wider, welcher in den neuen Generationen steckt. Rassismus wird unter dem Motto „Black Lives Matter” auf einer nie dagewesenen globalen Ebene bekämpft. Es handelt sich um Generationen von Medienprofis, welche geschickt zwischen Realität und Virtualität surft und dabei alle Grenzen überwindet. Müde werden sie dabei nicht, nein. So bewirken winzige Reize innerhalb des Nervensystems der Welt große Auswirkungen und Risiken können zu Chancen geformt werden. Wenn wir nur wissen, wie. Mir scheint, als habe unsere Jugend bald eine Antwort darauf – wir müssen sie nur reden lassen, während wir selbst versuchen, nicht auf Minen zu treten.

Quellen:

  • Pörksen, Bernhard.(2018). Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung. München: Carl Hansa Verlag.
  • Lobo, Sascha (2019). Realitätsschock. Zehn Lehren aus der Gegenwart. Köln: Kiepenheuer und Witsch.
  • Haig, Matt. (2018). Notes of a Nervous Planet. Edinburgh: Canongate Books Ldt.