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Club der männlichen Dichter

Wo bleibt die Diversität im Literaturkanon?

Von Janine Blees

Spricht man von Weltliteratur, so fallen meist die Namen Goethe, Schiller, Dickens und Poe, vielleicht noch Dostojewski oder Tolstoi. Doch was haben all diese – zugegebenermaßen nicht zu Unrecht genannten – Autoren gemeinsam? Sie sind alt, sie sind weiß, sie sind männlich. Klingt nach einseitiger Lektüre, ist es auch. Aber wie wird denn entschieden wer in den Club der großen Literaten aufgenommen wird, und warum finden sich dort kaum Frauen, queere Menschen und BIPoC?

„Weltliteratur ist nichts anderes als Männer, die sich nicht kurzfassen wollen“, schreibt die Autorin Sophie Passmann in ihrem neuen Buch Komplett Gänsehaut (2021). Und damit hat sie nicht ganz unrecht. Diesen Eindruck vermitteln zumindestens aktuelle Statistiken. In dem, von der Universität Tübingen aufgestellten, Kanon der Weltliteratur, finden sich unter 89 Autor*innen, gerade einmal fünf Frauen. [1] Fünf von 89 – dass das nicht der Hälfte entspricht, ist nicht schwer zu erkennen. Auch die Zahl der BIPoC Autor*innen ist nur knapp höher. [2] Nach queeren Personen, Menschen mit Behinderung und Vertreter*innen anderer marginalisierter Gruppen muss bereits mit der Lupe gesucht werden. Überdies sehen auch die Lektüreempfehlungen für baden-württembergische Gymnasien nicht viel besser aus. Hier finden sich unter 239 Nennungen nur 21 Frauen [3] – das entspricht neun Prozent.

„[e]s [gibt] nur wenige deutsche Autorinnen von beachtlicher Qualität.“

Doch woran liegt die Einseitigkeit des Kanons? Der bekannte Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki erklärt sich dies in einem Interview mit dem Spiegel, über den Umstand, dass „es nur wenige deutsche Autorinnen von beachtlicher Qualität“ [4] gebe. Dem zu widersprechen, fällt nicht schwer. Man denke nur an Sylvia Plath, Anette von Droste-Hülshoff, Else Lasker-Schüler und Christa Wolf – die Liste ist lang. Auch die Jurys angesehener Literaturpreise würden wohl widersprechen. Denn sowohl der deutsche Buchpreis für den besten deutschsprachigen Roman des Jahres als auch der Georg Büchner Preis, wurden in den letzten zehn Jahren ziemlich paritätisch verliehen. [5] Dem scheinen auch die Leser*innen zuzustimmen. So finden sich unter den 100 Bestellern der Buchhandelskette Osiander 2021, 43 Frauen [6] – keine schlechte Quote. An literarisch begabten Frauen fehlt es also nicht, sie tauchen nur in der Literaturbesprechung kaum auf.

Wo liegt das Problem am aktuellen Kanon?

Nun mögen so manche Verfechter des Kanons sagen, er sei gut so, wie er ist. Der Testosteron-Überschuss sei reiner Zufall, es komme doch nicht auf das Geschlecht des Autors an, es gehe um den Inhalt, die Qualität, das exemplarisch Stehen für eine Epoche. Und damit liegen sie nicht ganz falsch. Denn, dass man nicht bereit sein muss „einen ermäßigten Tarif wegen Geschlechtszugehörigkeit anzuwenden“ [7], wie Reich-Ranicki es formuliert, ist berechtigt. Schließlich sollten doch immer noch die geeignetsten und besten Werke gelehrt werden.
Jedoch vermittle das ausschließliche Lesen männlicher Werke den Schüler*innen ein stark verzerrtes Weltbild, erklärt die Literaturwissenschaftlerin Nicole Seifert, Autorin des Buchs Frauen Literatur. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt. „[I]mplizit lernen wir dadurch: Was literarisch wertvoll ist, stammt von Männern. Was Frauen schreiben, kann nicht sein“. [8]

Goethes Tragödie Faust gehört zur Pflichtlektüre. Bild: Unsplash

Nicht nur die Autoren, sondern auch der Inhalt der kanonischen Werke, unterstützt die Instandhaltung des Patriarchats. Man sehe sich einmal das Werk der deutschen Literatur an, durch welches sich wohl jede*r in seiner*ihrer Schulzeit quälen musste: Goethes Faust. So argumentieren Fans der Tragödie oft mit den zeitlosen Themen, wie der Liebe, dem Glauben und den Grenzen des menschlichen Daseins. Doch es ist eben auch die Geschichte eines alten, weißen Mannes, der eine sehr junge Frau begehrt – eines der verbreitetsten patriarchalen Motive der Literaturgeschichte.

Darüber hinaus würde der epochenübergreifende Faust wohl – ginge es bei den Schullektüren tatsächlich um die reine Darstellung der Epochen – kaum noch gelesen werden. Und weshalb analysieren Schüler*innen denn ein Dutzend Eichendorff Gedichte, statt eines der,  mindestens ebenso talentierten, romantischen Autorin Sophie Mereau. Haben Sie in Ihrer Schulzeit von ihr gehört? Vermutlich nicht.

Ist Pippi Langstrumpf kanonisch ?

Der studentische Blog der Universität Rostock, hat sich einen „ehrlichen Literaturkanon“ überlegt. Hier steht Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf neben Goethes Faust und die Twilight Reihe von Stephenie Meyer neben Hermann Hesses Unter´m Rad. [9] Wie sinnvoll diese Zusammenstellung ist, insbesondere im schulischen Kontext, kann natürlich angezweifelt werden. Trotzdem ist es erfrischend, nicht immer dieselben zehn Namen zu lesen, und zumindestens ein wenig diverser. Die Frage wer im Kanon vertreten sein sollte, führt unweigerlich weiter zu dem Infragestellen des Sinns und Zwecks des Kanons im Allgemeinen. Sollten kanonische Werke des Deutschunterrichts denn nur exemplarisch Merkmale von vergangenen Epochen aufweisen? Oder wäre es nicht auch sinnvoll Schüler*innen beizubringen, über gesellschaftliche Probleme und Diskurse zu reflektieren, über Missstände zu sprechen? Soll Literatur denn nicht provozieren, soll sie nicht anregen zum Diskurs und zum Nachdenken? Und hilft es Schüler*innen nicht vielleicht mehr, ein Buch zu lesen, dass die Perspektive einer marginalisierten Gruppe zeigt, statt die immer ähnlichen Geschichten alter, weißer Männer? Denn auch wenn all die Werke, die derzeit im Kanon stehen, bestimmt ihre Berechtigung haben, und niemand anzweifelt, dass Shakespeares Werke von großer Poetizität zeugen, oder dass Schillers Dramen zeitlos sind, gibt es nun mal viele weitere Bücher, die es sich zu lesen lohnt.

Das Erstellen eines Kanons bleibt also eine Gradwanderung zwischen Tradition und Zeitgeist, zwischen Bewährtem und Neuem. Doch die Literatur lebt von dem Diskurs, dem neu Hinterfragen und Interpretieren. Und auch in Zukunft wird es Stimmen geben, die die jetzigen Ideen zum Kanon für gestrig und konservativ halten werden. Doch so viel steht bereits fest: Eine Zusammenstellung der wichtigsten literarischen Werke sollte sich schon lange nicht mehr lesen, wie die Anwesenheitsliste eines Gentlemen´s Club des 19. Jahrhunderts.

Infobox

Dass es herausragende Bücher von Autor*innen aus marginalisierten Gruppen gibt, ist nicht anzuzweifeln. Wer nicht überzeugt ist, hier fünf neue und alte, bekannte und vergessene Buchtipps:

  1. Ocean Vuong – Auf Erden sind wir kurz grandios
  2. Simone de Beauvoir – Das andere Geschlecht
  3. Alice Hasters – Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten
  4. May Ayim – Grenzenlos und unverschämt
  5. James Baldwin – Giovannis Zimmer