Wenn Bildung eine Sünde ist
von Andrea Kroner
„Heute gibt es keine Weihnachtsbotschaft – es wird ein eher ungemütlicher Abend.“ Mit diesen Worten leitet Jürgen Wertheimer, Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Tübingen, den Gastvortrag ein. Eigentlich geht es in der Vorlesung um „Schlüsseltexte der Weltliteratur“, wofür der erste afrikanische Nobelpreisträger, Wole Soyinka, ein außergewöhnlicher Gastdozent ist. Doch dieser Mann spricht nicht über seine literarischen Werke, sondern will auf die gravierenden Missstände in seinem Heimatland Nigeria hinweisen. Es wird von der islamistischen Extremistengruppe Boko Haram terrorisiert.
Das Buch ist verdammt
So lautet die sinngemäße Übersetzung des Namens Boko Haram. Dieser Name wurde bewusst gewählt und richtet sich gegen die Werte und Bildung des Westens. Ausgehend vom Norden Nigerias hat sich diese islamistische Terrorgruppierung immer weiter ausgebreitet. „Aber kann es wirklich sein, dass ein Mädchen mit einem Buch in der Hand zum Feindbild der Nation wird?“, fragt Wertheimer in den Saal hinein. Er thematisiert damit die grausamen Massentötungen und Versklavungen vieler Mädchen, die nigerianische Schulen besucht haben.
Doch wie ist Boko Haram überhaupt entstanden? Der Nobelpreisträger erklärt, dass man Boko Haram kein genaues „Geburtsdatum“ zuweisen könne, da sie zu Beginn noch sehr unorganisiert war. Da es sich jedoch nur um eine Randgruppierung weniger Fanatiker handelte, wurde ihr gerade von Seiten der Regierung wenig Beachtung geschenkt. Doch sie konnte ihren Einfluss immer weiter ausbauen und begann, Menschen anderer Religionen zu verfolgen. Doch diese Phase hielt nicht lange an: Schon bald wollte sie auch den Islam reinigen und begann andere weniger radikale Glaubensanhänger zu ermorden.
Doch dieses Phänomen ist keinesfalls auf Nigeria beschränkt, es handelt sich vielmehr um ein globales Muster, sagt Sokinya: Es ist eine Waffe, die genauso stark ist, wie das, was die Europäer bisher mit dem Rest der Welt gemacht haben.
„ISIS is not a state“
Auch auf den selbsternannten Gottesstaat ISIS geht Soyinka näher ein und wirft dabei folgende Fragen in den Raum: Wann genau beginnt eigentlich ein Staat? Wenn er ein eigenes Teritorium absteckt? Wenn er eine eigene Währung drucken lässt? Darauf antwortet er, dass ISIS genau das getan hat. Und dennoch sind ihre Anhänger für ihn „keine Krieger Allahs, sondern Krieger der Verdammnis“. Er stellt sogar infrage, ob es sich dabei noch um Menschen handle oder ob es nicht besser wäre, den Begriff der Menschheit im Angesicht solcher Gräueltaten umzudefinieren.
Doch wie kommen solche Gruppierungen überhaupt dazu, so viele Anhänger zu bekommen? Weshalb schließen sich auch so viele westlich geprägte Jugendliche an? Ganz einfach, erklärt der Nobelpreisträger: „Sie hoffen auf eine Utopie.“ Sie hoffen, dass durch die Zerstörung der Gegenwart die Aussicht auf eine schillernde Zukunft erfüllt werden könne. Sie ließen sich „das Königreich des Himmels auf Erden“ versprechen. Die Jugendlichen bekämen das Gefühl von Zugehörigkeit und Verständnis. „Sie werden Bürger einer Ordnung, die einer vollkommenen Abwesenheit jeglicher Einschränkungen entspricht, zumindest nach der eigenen Wahrnehmung. Ein Staat, wo die untersten Instinkte […] wie Mobbing erfüllt werden können. […] Nun aber legitimiert als Bürger, als Krieger Allahs“, so Wole Soyinka. Wenn sie sehen würden, wie beispielsweise ein Unschuldiger grausam ermordet wird, würden sie denken, ihr Staat, also ISIS, habe lediglich rechtmäßig seine Gesetze angewandt, um seine Ordnung aufrecht zu erhalten. Und so nähme eine Art Staat langsam Form an, da er von einer großen Anhängerschaft anerkannt würde, erklärt Soyinka.
„Boko Haram is the result of impunity“
Da Boko Haram lange nichts entgegen gestellt wurde, habe sie eine Zeit der Ungestraftheit durchlebt, in der ihre Anhänger wahllos morden konnten. Soyinka charakterisiert Nigeria dabei als eine Nation, die ins Wasser fällt: Obwohl sie wie wild um sich schlägt, geht sie trotzdem unter. Dennoch sieht er auch einen Lichtstreif am Horizont, denn er glaubt, dass Boko Haram besiegt werden könne, da es bereits Zeichen dafür gebe, dass sie sich auf dem Rückzug befinde: Sie hat enorm an Territorium und Einfluss verloren. Jedoch habe jede dieser radikalen Gruppierungen, sei es Boko Haram, ISIS oder eine andere Organisation, eine eingebaute Mutation, sodass es sie immer irgendwo geben werde, auch wenn man sie an einem Ort zerschlagen hätte. Mit den fulminanten Worten „Zerstöre oder werde zerstört“ lässt Soyinka seinen aufregenden Vortrag enden.
Foto: Lançamento do Livro “ O leão e a Jóia“, Fotos GOVBA/flickr.com(CC BY-NC-SA 2.0)