von Felix Niedrich


Die Suche nach der Wahrheit ist, was jeden Krimi antreibt: der Plot beginnt mit einem Verbrechen, das es aufzuklären gilt. Es folgt die Jagd nach dem Täter und schließlich dessen Überführung und Verurteilung. Ende der Geschichte.

In „Memento“ wird die Detektivgeschichte als Rachefeldzug erzählt. Bei einem Überfall wird die Frau des Protagonisten Leonard Shelby getötet und er schwer verletzt. Er sucht nach dem Mörder, findet ihn und bringt ihn um. Die Story klingt konventionell und simpel. Aber natürlich ist das ganze etwas komplizierter.

Der Erinnerung beraubt

Schon die erste Einstellung des Films allein fasst den ganzen Film meisterhaft in buchstäblich nur einem einzigen Bild zusammen. Ein Polaroid in der Hand eines Mannes, das einen Toten zeigt und mit jedem Schütteln mehr verblasst. Die Szene läuft rückwärts ab. Die Kamera saugt das Foto wieder ein und der Mann, der eben erschossen war, erwacht wieder zum Leben. Dies ist eine erste Warnung an den Zuschauer: in diesem komplizierten Filmpuzzle ist nichts sicher.

Das Problem: die Hauptfigur leidet seit dem Überfall an anterograder Amnesie. Leonard kann seither keine neuen Dinge abspeichern. Wie das Foto verblasst alle paar Minuten seine Erinnerung. Ein Handicap, dass die Suche nach einem Mörder ziemlich erschwert.
Der Clou: der Film erzählt einen großen Teil der Handlung in umgekehrter Reihenfolge, also rückwärts. Der Effekt: Gedächtnisverlust beim Zuschauer.

Der Plot des Films beginnt mit dem Ende der Story: der Erschießung des vermeintlichen Mörders. Danach bedient der Film primär zwei verschiedene Erzählstränge, die sich abwechseln und auf einander zulaufen. Ein Teil der Sequenzen sind in schwarz/weiß gehalten und laufen chronologisch ab. Hier sitzt Leonard in einem Motelzimmer und plant sein weiteres Vorgehen. Diese Sequenzen dienen auch der Exposition. Es wird gezeigt, wie Leonards System mit seinem Leben klarkommt. Mit Notizen, Fotos und Tattoos  versucht er einen Überblick über alle wichtigen Informationen zu behalten.
Alle Sequenzen in Farbe sind rückwärts angeordnet, das heißt, die jeweils nächste farbige Sequenz im Film, zeigt, was vorher in der Geschichte passiert ist.

Durch diesen dramaturgischen Kniff wird das Genre auf den Kopf gestellt und der Prozess der Aufklärung ins Gegenteil verkehrt. Bereits die Vorwegnahme des Endes kann als Ausgangspunkt einer Unsicherheit gelten. Der Zuschauer kann zunächst weder Einordnen, was passiert, noch warum. Der eigentliche Höhepunkt dient hier als Hook.

Auch die Spannung und das Interesse der Zuschauer sind rückwärtsgerichtet. Aus dem „Whodunit“ wird ein „Whydunit“. Nolan zeigt uns erst Wirkung und Konsequenz einer Handlung und erst später deren Ursache. Informationen sind so immer erst rückwirkend in einen Kontext oder als wahr oder falsch einzuordnen. Dadurch entsteht einmal ein kognitiver Reiz, da der Zuschauer sein eigenes Erinnerungsvermögen kritisch hinterfragen und die Story ständig chronologisch neu zusammensetzen muss, um sie nachzuvollziehen. So erhält der Film seine Spannung durch den Wechsel zwischen Wissen und Nichtwissen, Erkenntnis und Verunsicherung.

Gleichsam hat die Struktur des Films auch eine emotionale Funktion, da sie den Zuschauer in denselben Zustand versetzt, in dem sich die Hauptfigur befindet. Sie nimmt ihm die Erinnerung an die Vergangenheit. Das heißt leider auch, dass der Zuschauer diesem Zustand ausgeliefert ist.

Der „unzuverlässige Erzähler“

Leonard tritt hier auch als Erzähler auf. Dies wird durch die Kameraführung  und durch Techniken wie dem Voiceover etabliert. Der Zuschauer weiß damit (in gewisser Weise) meist nie mehr als der Protagonist.

Dadurch entsteht eine spannende Dynamik hinsichtlich der Figuren, deren Beziehungen und Motivationen. Leonard kann sich an die Leute, die er trifft, nicht erinnern. Einige davon scheint er aber zu kennen. Aber wer sie sind oder was sie wollen ist unklar. Weder er noch die Zuschauer wissen, wem sie trauen können. Und am wichtigsten ist die Frage, ob man Leonard selbst vertrauen kann.

Dagegen spricht einiges. Zunächst Leonards Zustand. Er gibt sein Handicap offen zu und macht sich selbstironisch darüber lustig. Gleichsam versucht er sich zu rechtfertigen, indem er behauptet, dass Erinnerungen sowieso nur eine ungenaue Interpretation und irrelevant seien, wenn man die Fakten hat. Seine Aussagen sind somit von Beginn an fraglich. Wir sehen auch, dass Leonard aufgrund seines Zustands leicht zu manipulieren ist.
Auch seine weitere Charakterisierung lässt Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit aufkommen. Wir erfahren, dass Leonard für eine Versicherung gearbeitet hat und dort Tatsachen so auslegen musste, damit es für ihn möglichst profitabel war.
Insbesondere wird seine Sicht der Dinge aber durch Aussagen der Antagonisten herausgefordert. Leonards komplette Geschichte und Identität werden in Frage gestellt. Flashbacks, bei denen unklar ist, ob es sich um Erinnerungen oder Erfindungen handelt, unterstützen dabei bisweilen verschiedene Versionen der Geschichte. Bereits zuvor ist zu sehen, wie Leonard manchen Hinweisen und Tipps folgt und manche ignoriert. Dadurch entsteht wiederum Spannung darüber, ob Lenny das richtige tut.

Am Höhepunkt des Films wird offenbart, dass Leonard sich selbst manipuliert. Nicht nur ignoriert er die Einwände anderer, vielmehr macht er sich bewusst falsche Notizen, die ihn auf sein nächstes, unschuldiges Ziel ansetzen. Da er sich kurz darauf nicht mehr daran erinnern wird, werden diese Lügen für ihn zu Fakten. Damit konstruiert sich Leonard seine eigene Version der Wahrheit. Wahrheit wird hier als flüchtig und unsicher dargestellt.

Das endlose Rätsel

Spätestens jetzt ist sämtliches Vertrauen in seine Figur erloschen. Wäre der Film in chronologischer Reihenfolge abgelaufen, würde diese Tatsache bereits lange vorher aufgedeckt und die schockierende Wirkung wäre weit weniger ausgeprägt.

Wie bereits Jean-Luc Godard sagte: „Jede Geschichte hat einen Anfang, eine Mitte und ein Ende, aber nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.“
„Memento“ endet in der Mitte der Story, aber Leonard steht wieder am Anfang seiner Suche. Dem Kreislauf des Dilemmas, in dem er sich befindet, wird damit auch auf struktureller Ebene entsprochen. Leonard schafft sich selbst ein Rätsel, dass er nicht lösen kann, um seinem Leben eine Aufgabe zu geben. Auch für den Zuschauer ist die Suche nach der Wahrheit nicht am Ende. Denn eine gänzlich eindeutige Auflösung gibt es nicht.
Die Struktur ist aber wie wir sehen keineswegs das manchmal kritisierte „Gimmick“, sondern inhaltlich motiviert, dient dem Storytelling und ist dramaturgisch sinnvoll. Genau wie die Tatsache, dass die Frage nach der Wahrheit ein weiteres Mal erst thematisiert wird und dann ungeklärt bleibt.

 

Foto: flickr.com/ Photo by Martin Pulaski

 

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