Tot – und trotzdem online
von Steven Gold
Das Papier-Testament hat ausgedient – die letzten Worte werden virtuell gesprochen. Einige entscheiden sich für Blog- oder Videonachrichten, doch mittlerweile gibt es auch Facebook-Apps, mit denen man vorsorglich Nachrichten aufzeichnen kann. Makaber oder praktisch?
Das Papier-Testament hat ausgedient – die letzten Worte werden virtuell gesprochen. Dafür entschied sich auch Derek K. Miller. Er war ein Journalist und Blogger, der letztlich seinem Krebsleiden erlag. Vor seinem Tod hat er allerdings einen letzten Beitrag für seinen Blog verfasst und seine Verwandten gebeten diesen nach seinem Ableben zu veröffentlichen.
Here it is. I’m dead, and this is my last post to my blog.
Mit diesen Worten beginnt er seinen definitiv letzten Blogeintrag, in dem er ein letztes Mal über seine Krankheit und seine Sicht auf den Tod. Er beschreibt diesen letzten Eintrag als einen ersten Schritt vom aktiven Blog zu einem Archiv. Diese, seine letzten Gedanken, mit uns zu teilen erfordert sicherlich Mut im Angesicht des nahenden Endes. Durch seine Art zu schreiben, regt er Menschen an mitzufühlen, ihn aber auch zu verstehen und noch einmal eine völlig neue Sicht auf das Angstthema eines jeden Menschen zu bekommen, den Tod.
Ein anderes Beispiel ist die kleine Jessica Joy Reese, die via Facebook den Menschen nach ihrer Hirntumor-Diagnose die Möglichkeit gab, sie in ihren letzten Monaten zu begleiten. Jeden ihrer posts schloss sie mit den Worten „Never Ever Give Up“, kurz NEGU. Daraus wurde sogar eine Foundation, die Menschen wie Jessica helfen soll.
Aber ist wirklich jede „letzte“ Nachricht von Relevanz? Sollte jeder Mensch in der Lage sein, seine Gedanken über den Tod hinaus virtuell zur Schau zu stellen?
Eine letzte Nachricht, If I die…
„Zum Ende dieses Jahres wird es nahezu eine Milliarde Menschen […] geben, die aktiv Sites sozialer Netzwerke benutzen. Was sie alle eint, ist, dass sie sterben werden.“ Damit beginnt Adam Ostrow seinen TED Talk Beitrag aus dem Jahr 2011 zum Thema „After your final status update“.
Längst ist das Thema aber auch als Marktlücke entdeckt worden: Da es sich nie voraussehen lässt, wann es denn nun soweit ist, hilft eine Facebook-App mit dem digitalen Nachruf – „If I die“. Gleich zu Beginn auf ihrer Homepage heißt es in einem Video, dass der Tod praktisch hinter jeder Ecke lauert und diese App uns die überwältigende Möglichkeit gibt, sollten wir dem Tod überraschenderweise über den Weg laufen, einige letzte Worte über unseren Facebook-Account mit der Welt zu teilen. Dazu bestimmt man zunächst einmal drei sogenannte „Trustees“, welche das Ableben bestätigen müssen, um nicht ausversehen zu früh die verborgensten Gedanken, Ratschläge oder Geständnisse preiszugeben. Tritt nun tatsächlich der Tod ein, so kann man in einem Post oder einer Videobotschaft noch einmal alles sagen, was man schon immer sagen wollte.
Zweifellos ist dies dennoch nicht jedermanns Sache. Die meisten sind einer derartigen App gegenüber eher skeptisch eingestellt. Vor allem, da gerade bei „If I die“ schnell klar wird, dass diese App nicht so einfach funktioniert, wie die Macher sie in dem Video beschreiben. So müssen die Trustees selbst erst die Anwendung installieren, um die, laut „If I die“, ehrenvolle Aufgabe erfüllen zu können, ihre Freunde als verstorben zu melden. Des Weiteren reichen die drei Trustees natürlich nicht aus, da ja ebendiese mit einem sterben könnten. User erklären, dass es sechs Trustees sein müssen, die – wie bei beinahe jeder Aktion innerhalb von „If I die“ – nun die App selbst installieren müssen.
Shame on you!
Shame on you!, wenn man an dieser Stelle denkt, die App würde auf wirklich jede erdenkliche Art versuchen, eine größere User-Menge zu bekommen. Zur Erinnerung: Die erste Stufe des Marketings begann mit scheinbar willkürlichen Telefonanrufen, bei denen der einprägsamen Satz „Death can catch you anywhere. Anytime“ formuliert wurde. Heute verbreitet sich die App gewissermaßen über sich selbst. Geht man von der Zahl der „Gefällt mir“-Klicks aus, so haben bis dato 7000 Facebook-User die App installiert (während allerdings über 40.000 monatliche Nutzer angezeigt werden). Wie viele davon allerdings eine eigene Botschaft hinterlassen haben, ist nicht bekannt. Denn, so „If I die“, sind sämtliche Videos auf gesicherten Servern gespeichert, wo sie für niemandem, außer dem User selbst, zugänglich sind. Es ist auch nicht bekannt, ob die App tatsächlich schon zum Einsatz kam. (In einem Selbstversuch mit einem Fake-Account hat es schon bei der Benennung der Trustees nicht funktioniert).
Ob man sich tatsächlich für so eine Art von Facebook-App entscheidet, muss letztlich jeder selbst entscheiden. Vor der Nutzung sollte man sich jedoch fragen: Will ich mich wirklich jetzt schon mit meinem Tod auseinandersetzen? Was ist, wenn ich in 3 Jahren sterbe und die Nachricht längst nicht mehr aktuell ist? Und letztlich auch: Will ich meine Gedanken wirklich mit der gesamten Welt teilen?
Rest in Peace oder Rest in Facebook?
Auch, wenn man sich gegen die „If I die“-App entscheidet, bleibt man nach dem Tod noch eine Weile erreichbar – zumindest online. So werden Profile in soziale Netzwerke häufig zu einer Art Kondolenz-Buch für Freunde und Bekannte. Aber was passiert eigentlich nach dem Tod mit unseren Daten? Diese Frage kann kaum jemand beantworten. Chris Faraones geht in seinem Artikel „Digital Death“ ebenfalls der Frage nach – und findet keine eindeutige Antwort. Es gibt zwar Möglichkeiten, über die Verwaltung von Facebook, Twitter und Co. Zugriff auf den Account eines Verstorbenen zu bekommen und so Inhalte zu löschen, dies gestaltet sich allerdings häufig äußerst schwierig.
Einige Netzwerke arbeiten deshalb an einem System, welches die Accounts löscht, sobald nachgewiesen werden kann, dass ein User sich „dem Farmville des Himmels“, wie es Chris Fararone nennt, angeschlossen hat. Einige Experten gehen aber auch davon aus, dass früher oder später sowieso alle Daten gelöscht werden. Aber auch wenn dies so sein sollte, so stellt sich doch die Frage: Wann beginnt früher oder später? Natürlich lässt sich der Fortschritt nicht aufhalten, doch sollten wir nicht eine Grenze ziehen? Dieser Frage muss sich jeder Einzelne stellen. Für den einen mögen die heutigen Möglichkeiten einen völlig neuen Weg bieten sich zu verabschieden, während andere sich doch lieber in einem „altmodischen“ Brief unter Ausschluss der Öffentlichkeit an die Nächsten wenden.
Im Gedenken an die am 5. Januar 2012 verstorbene Jessica Joy Rees: NEGU.