Schuldig?
Von Joel Okonnek
Wie reagieren Menschen, wenn sie eines Mordes beschuldigt werden? Oder besser: Wie reagieren die anderen, wenn man selbst eines Mordes beschuldigt wird? Samuel Tilman zeigt in seinem Thriller „Une part d’ombre – Die Schattenseite“, wie schnell sich Abgründe auch in den scheinbar besten Freundschaften auftun – und dass niemand wirklich ist, wer er scheint.
„Was habt ihr denn da vorhin in der Hütte gemacht? Ihr wart ja ganz schön lange weg.“ Von seinen Freunden in die Enge getrieben, versucht David (Fabrizio Rongione) ihnen weißzumachen, dass er seiner Frau bloß bei der Suche nach einer ihrer Kontaktlinsen geholfen habe. Scherzend und lachend probieren die Kameraden, die Wahrheit aus ihm herauszubekommen, doch er grinst nur schelmisch und spielt unwissend. Im nächsten Moment pechschwarze Nacht. Vor einem dunklen Wald steht verlassen ein Auto – das Innenlicht noch brennend, die Scheiben von der Kälte beschlagen. Langsam kriecht die Kamera näher, etwas scheint offensichtlich nicht zu stimmen. Und dann liegt sie da, regungslos.
„Une part d’ombre“ erzählt die Geschichte von David und seiner Frau Julie (Natacha Régnier), die zusammen mit ihren Freunden in den Vogesen Urlaub machen. Alle kennen sich über ihre gemeinsame Arbeit als Lehrer und bilden – das wird schnell deutlich – eine eingeschweißte Gruppe. Doch als sie zurück nach Belgien kommen, steht plötzlich die Polizei vor der Tür: David wird als Hauptverdächtiger in einem Mordfall befragt. Der Beschuldigte selbst bestreitet die Tat. Doch als im Laufe der Ermittlungen eine bisher unbekannte dunkle Seite Davids zum Vorschein kommt, beginnen sich die Zweifel zu häufen. Wenn David bereits ein Doppelleben verheimlichen konnte, warum sollte er dann nicht auch zum Morden fähig sein?
Die persönlichen Spannungen und Beziehungen bilden den Mittelpunkt der Handlung. „Une part d’ombre“ lebt dabei von seinen Charakteren. Den Großteil des Films prägen nahe Einstellungsgrößen der Kamera, erzielt durch eine Schulterkamera auf Augenhöhe der übrigen Personen. Wie Tilman in einem Interview durchblicken lässt, ist dieser Handgriff sehr bewusst so gewählt: Der Zuschauer befindet sich mitten im Geschehen, im Getümmel der Leute, erlebt alles aus nächster Nähe mit. Und so kommen die Streitereien, Gespräche, die verstreuten glückseligen Familienmomente erst richtig zur Geltung.
Beschränkt auf die Perspektive Davids und seines Freundeskreises wird man beinahe dazu gezwungen, deren Gefühle und Entwicklungen mitzuerleben. Das bekräftigt eine Kameraeinstellung, die oft auch mal nur die Gesichter der handelnden Personen scharf lässt. Man kommt nicht darum herum, ebenso zu zweifeln. Jedes neue Beweisstück, jeder neue Informationsfetzen erzeugt eine Reaktion bei den Freunden – und der Zuschauer, dem nur diese eine Perspektive zur Verfügung steht, kann nicht anders, als selbst auch zu urteilen: Ist David schuldig? Oder ist er doch unschuldig? Wenn er bereits eine Schattenseite verheimlichen konnte, die zudem ein mögliches Motiv ergeben könnte, warum dann nicht auch den Mord?
So mancher mag sich fragen, wie er selbst in solch einer Situation reagieren würde. Ist Davids gereizter und heftiger Wutausbruch gegen das Verhalten seiner Freunde als Zeichen der Schuld zu verstehen? In Abwesenheit tatsächlicher objektiver Beweise bleibt nur ein moralischer Hintergrund als Wertungsgrundlage. Darauf baut der Film auf und stellt den Zuschauer durch seine persönliche und intime Erzählstruktur vor das gleiche Dilemma. Ab und an ergänzen Rückblicke aus Davids Sicht dessen Schilderung der Geschehnisse von jenem Abend und enthüllen die Wahrheit so jedes Mal ein kleines bisschen mehr. Weite Naturaufnahmen, die die Personen fast zu erdrücken scheinen, spiegeln in diesen Szenen atmosphärisch die innere Spannung Davids wider.
Die Überlegungen, Zweifel und Charakter-einschätzungen, die sich jeder Einzelne nach und nach im Laufe des Films aufbaut, kulminieren in der finalen Szene. Unterstrichen von dramatischem Geigenspiel enthüllt ein letzter Rückblick – parallel zur Gerichtsverhandlung – die ganze Wahrheit jener Nacht. Diese finale Überlagerung scheint noch einmal sämtliche vorherigen Handlungsstränge zu vereinen und verknüpft sie mitreißend zu einem Ganzen. Die Spannungen des Zuschauers lösen sich endlich auf, klingen aber doch gleichzeitig noch in der Erinnerung nach. Tilman gelingt in seinem ersten eigenen Spielfilm eine dunkle, atmosphärische Erzählung, die durch ihren Fokus auf das Zwischenmenschliche und nicht zuletzt die überzeugenden Leistungen ihrer Darsteller auch nach dem Abspann noch an Durchschlagskraft behält – und die stets präsenten Zweifel und die Zwiespältigkeit wirkungsvoll zur Geltung kommen lässt.
UNE PART D’OMBRE, Belgien 2017 – Regie: Samuel Tilman. Buch: Samuel Tilman. Kamera: Frédéric Noirhomme. Mit: Fabrizio Rongione, Natacha Régnier. 90 Min.
Quelle des Fotos: http://screen.brussels/fr/projet/une-part-dombre