Foto: Privat

Ein ziemlicher Alptraum

Der Corona-Alltag einer Pflegekraft in London

Von Marie-Claire Krezer

Sigi Müller arbeitet als Krankenpfleger auf der Intensivstation eines Londoner Krankenhauses. Für den ehemaligen Flugbegleiter bedeutet die Coronakrise in doppelter Hinsicht eine Umstellung seines gewohnten Berufsalltags.

Anmerkung der Autorin: 2019 habe ich bereits ein Interview mit Sigi Müller geführt. Damals noch parallel als Flugbegleiter und Krankenpfleger tätig, berichtete er dabei über seinen Arbeitsalltag als Mann in „Frauenberufen“. Dieser Beitrag dient als Fortführung des Gesprächs mit Sigi Müller. 

Fünf Uhr abends englischer Zeit. Sigi Müller sitzt im Arbeitszimmer seines kleinen Reihenhauses in Richmond, London. Die verschiedenen Bücher, die hinter ihm stehen, sind sorgfältig aneinandergereiht. Auf dem Regal daneben ein Modellflugzeug. Eine geblümte Tapete, deren Muster an den traditionell britischen Liberty-Print erinnert, ziert die Wände. Den Tag hat Sigi Müller mit Radfahren verbracht. Ein willkommener Ausgleich zu seinem aktuellen Arbeitsalltag. „Genügend ausruhen zwischendurch“, das sei sehr wichtig für ihn – gerade jetzt. Trotzdem wirkt er müde. Überstunden sind keine Ausnahme. Sigi Müllers 23-Stunden-Wochen in Teilzeit auf der Intensivstation bestehen im Schnitt aus 12,5 Stunden pro Schicht. Und „normalerweise arbeite ich noch an einem zusätzlichen Tag“. Normalerweise – unregelmäßige Arbeitszeiten und Extraschichten im Krankenhaus sind für ihn zum Alltag geworden. Das war nicht immer so: Bis 2020 war Sigi Müller Flugbegleiter bei British Airways und die Arbeit im Kingston Hospital nur seine Nebentätigkeit. Strukturelle Veränderungen und die fehlende Zeit für sich selbst waren es, die ihn dazu bewegten, seinen Job bei der Fluggesellschaft aufzugeben. Nun sieht er sich mehrmals wöchentlich konfrontiert mit Unvorhersehbarkeiten, die weitaus mehr Einsatz und Anpassungsvermögen von ihm fordern als die Fliegerei.

Seine erste Impfdosis hat Sigi Müller bereits Ende 2020 erhalten. Und eine eigene Ansteckung kann man bei der Behandlung von Corona-Patient*innen trotz, wie er findet, sehr guter Schutzmaßnahmen im Krankenhaus generell nie ausschließen. Vorsichtig sollte man sein, aber nicht überängstlich. Auch braucht es ein gewisses Maß an Vertrauen: „Wenn ich mich nicht sicher fühlen würde, würde ich das nicht machen.“ Sigi Müller ist sich seiner immensen Verantwortung gegenüber den Kranken und seinen Kolleg*innen bewusst. Und genau das ist es, was ihn bei seiner Arbeit besonders frustriert: Der Balanceakt zwischen exakter Behandlung der Patient*innen und ständiger Bereitschaft, den anderen Pflegekräften zeitgleich unter die Arme zu greifen. „Man muss dann halt Prioritäten setzen.“ Priorisieren und rationalisieren in Situationen, in denen es sprichwörtlich um Leben und Tod geht. Funktionieren. Anforderungen, die in Zeiten der Coronakrise wohl einfach dazugehören.

Sigi Müller im Frühjahr 2021 bei seiner Arbeit im Kingston Hospital London. Foto: Privat.

Immer mehr Beschäftigte im Gesundheitswesen erleiden psychische Schäden in Folge der zunehmenden Belastung. Viel triftiger als der oft diskutierte Überarbeitungsbedarf starrer innerklinischer Strukturen erscheint nun der Redebedarf zahlreicher ausgebrannter Pflegekräfte. „Ich habe das Gefühl, die meisten Leute wollen sich aussprechen.“ Mindestens eine*r von fünf Pfleger*innen zeigt im Zuge der Corona-Pandemie Symptome von Depressionen und anhaltenden Angstzuständen. Sigi Müller fällt es schwer, ruhig auf seinem Stuhl zu sitzen. 

Im Londoner Kingston Hospital gibt es spezielle Seelsorgeteams für das mentale Wohl der Angestellten, erzählt er. Häufig hilft auch der Austausch mit Kolleg*innen am Ende einer Schicht. Aber was, wenn dieser kollegiale Rückhalt wegfällt, wenn Kolleg*innen selbst am Coronavirus erkranken oder sogar daran sterben? „Das ist schwierig, das ist immer schwierig.“ Sigi Müller hält inne. Es passiert nicht oft, dass ihm deutsche Worte fehlen. Ein Umgang mit der Machtlosigkeit in solchen Situationen: „Sending good vibes.“ In Gedanken bei den Betroffenen sein. Mehr könne man nicht tun. 

Überlastung. Unterbezahlung. Unsicherheit. Einige der Intensivpfleger*innen auf Sigi Müllers Station haben ihre Stellen deswegen frühzeitig aufgegeben. Gleichzeitig ist die Zahl der Bewerber*innen um ein Krankenpflegestudium in Großbritannien seit Corona um fast ein Drittel gestiegen. Und trotzdem müssen einige Rahmenbedingungen dringend gebessert werden. „Es genügt nicht, zu denken ‚Die machen das sowieso, das ist ein Beruf mit Berufung‘.“ Einen weiteren Kritikpunkt sieht Sigi Müller aktuell in der unzureichenden Vorbereitung auf die neue Situation und die fehlende Schulung des Personals. Die Pfleger*innen im Kingston Hospital werden von heute auf morgen stationsübergreifend eingesetzt. „Wir wurden da einfach reingeschmissen.“ Durch sein abgeschlossenes Pflegestudium und die Erfahrungen als Anästhesiepfleger bringt Sigi Müller mehr Wissen mit als manche Kolleg*innen. Er sieht sich in der Pflicht, die zusätzlichen Fähigkeiten vermehrt einzubringen und bildet sich in seiner Freizeit mit Online-Kursen weiter.
„Irgendwie unvorstellbar“ war für ihn der doppelte Berufsumstieg anfangs trotzdem: Vom klinischen Normalbetrieb in der OP-Abteilung zum Krisenmodus auf der Intensivstation. Von einem derzeit stark abnehmenden Arbeitsbereich zu einem, der die Gesellschaft aufrechterhält. Was lohnend klingen mag, verlangte durch die schonungslose erste Corona-Welle eine immense Anpassung. „Für mich war die Umstellung schon ein ziemlicher Alptraum – so auf einmal.“ Über Nacht zum Lebensretter, wenn man so will. Als Helden versteht Sigi Müller sich aber nicht. 

Lichtblicke in seinem Arbeitsalltag sind Fälle wie die von Patientin Elsa, die trotz Corona-Erkrankung und künstlichem Koma eine gesunde Tochter zur Welt brachte. Der britische Fernsehsender SkyNews berichtete in einem Kurzbeitrag über Elsas Fall. Positiv stimmen den Krankenpfleger außerdem die derzeit rückläufigen Infektionszahlen in Großbritannien, die seit dem Lockdown um zwei Drittel in ganz England und um 80 Prozent in London gesunken sind (Stand Februar 2021).

Wird es nach der Coronakrise ein back to normal im Kingston Hospital geben? „Es ist den meisten von uns bewusst, dass es das normal von damals gar nicht mehr geben wird.“

Halb sieben in London. Und jetzt? „Zeit für mich.“ Vielleicht telefonieren mit der Familie oder Freund*innen. Nähe auf Distanz war für den Deutschen, der seit 35 Jahren in Großbritannien lebt, schon vor Corona Normalität.

Quellen: