„Es ist nie zu spät anzufangen“
Die Bunte Wiese Initiative: Für mehr Artenvielfalt in Tübingen
Von Marie Ritter
Garten-Wollbienen, Tigermottenraupen und Heupferde zwischen Betonbauten und versiegelten Flächen: Eine Tübinger Initiative setzt sich für grüne Inseln überall in der Stadt ein und schafft dadurch Platz für viele unterschiedliche Tier- und Pflanzenarten. Ein Spaziergang über die “Bunten Wiesen” lädt zum Entdecken und Staunen ein – und inspiriert dazu, unsere Umwelt mit anderen Augen zu sehen.
Unter den Tübinger Studierenden ist die Morgenstelle als Sitz der naturwissenschaftlichen Institute vor allem für die brutalen Betonfassaden bekannt. Die grauen Neubauten aus den späten 60er Jahren sind in ihrer einschüchternden Anonymität und Kälte keine angenehmen Lernorte und trotzdem müssen hier um die 8700 Studierende die meiste Zeit ihres Studienalltags verbringen. Es mag vielleicht überraschen, dass es gerade dort seit über einem Jahrzehnt kleine, grüne Oasen gibt, artenreiche Grünstreifen, die im Schatten der wuchtigen Universitätsgebäude zahlreiche Pflanzen- und Tierarten beherbergen. Auf diesen, leicht zu übersehenden Wiesen lässt sich derzeit einiges beobachten: Garten-Wollbienen, die ihre Reviere um Wollziest und Wiesensalbei vehement verteidigen, gelbe Tigermottenraupen, die über Wegerich kriechen oder im Wind rasselnde Klappertöpfe, die unterirdisch Grashalmwurzeln anzapfen.
Eine Hochschulinitiative für mehr Artenvielfalt
Diese grünen Inseln sind nicht zufällig entstanden. Im Frühjahr 2010 gründeten Studierende und Mitarbeitende der Universität Tübingen die Initiative „Bunte Wiese – für Artenvielfalt auf öffentlichem Grün“ mit dem Ziel, die Artenvielfalt in öffentlichen Parks und auf Grünflächen der Stadt zu fördern. Die Initiative fühlt sich seitdem nicht nur für das Anlegen von Modellwiesen und die Bestandsaufnahmen der Flora und Fauna im öffentlichen Grün Tübingens zuständig, sondern auch für Öffentlichkeitsarbeit. Nach dem Motto „Du schützt das, was du kennst“ soll das Konzept an die breite Bevölkerung vermittelt werden. Denn viele Pflanzen-, Tier-, und Pilzarten sind gefährdet, weil ihre Lebensräume kontinuierlich schwinden – unter ihnen auch die artenreichen Wiesen. Dass die Zeit drängt, erwies die 2017 erschienene Krefelder-Studie, bei der in 63 deutschen Schutzgebieten zwischen 1989 und 2016 ein Rückgang von 76 Prozent (im Hochsommer bis zu 82 Prozent) der Fluginsekten-Biomasse festgestellt worden ist. Schuld für den drastischen Rückgang ist nicht nur der Einsatz von Pestiziden und Dünger in einer Landschaft, die primär aus Monokulturen besteht, sondern auch die Bodenversiegelung für Wohnungsbau, Verkehr und Gewerbe. Pro Tag werden ca. 52 Hektar Land in Deutschland versiegelt.
Wilde Wiesen statt englischem Rasen
Um diesem Verlust an Lebensraum für Flora und Fauna entgegenzuwirken, braucht es bunte Wiesen. Leider existiert gegenüber ihnen noch immer ein gewisser Argwohn – vor allem in den Städten. Sie gelten als unordentlich und verwildert. Knie- bis hüfthohe Gräser, zwischen denen die Spinnenweben kleben, entsprechen schon lange nicht mehr dem Ideal des gepflegten, englischen Rasens, auf dem zecken- und mückenfrei gesonnt, gepicknickt und ausgeruht werden kann. Durch den Einsatz der Initiative für die Ergänzung der Rasenflächen um Bunte Wiesen entstehen wieder strukturreiche Lebensräume für Pflanzen und Tiere. Damit den Menschen in der Stadt die Umgewöhnung nicht ganz so schwerfällt und damit die Wiese die Fußgänger*Innen nicht behindert, empfiehlt die Initiative einen ca. 1 m breiten „Akzeptanzstreifen“ am Rand der Langgraswiesen zu mähen und Informationstafeln aufzustellen. Offensichtlich mit Erfolg: Mittlerweile sind es stolze 15-20 Hektar, circa 53 Wiesen in Tübingen, die extensiv gemäht für mehr Vielfalt sorgen. Auf diesen bunten Wiesen leben eine signifikant höhere Anzahl an Arten und Individuen von Tagfalter-, Wanzen-, Wildbienen und Heuschreckenfauna als auf den gängigen kurz gehaltenen Rasen.
Bunte Wiesen als Motivation für mehr Klimaschutz
Inzwischen wurden auch Bunte Wiesen Initiativen in anderen Städten gegründet. Auch in Landau, Göttingen und Stuttgart finden sich Hochschulgruppen, die das Konzept an die Öffentlichkeit tragen. Vielleicht braucht es gar nicht die Bedrohung, dass die Temperaturen steigen und die Extremwetterereignisse häufiger werden. Vielleicht wecken bunte Wiesen und Menschen, die sich für sie einsetzen, eine neue Wertschätzung für die Natur und damit ein Gegengewicht zu den uniformen menschengebauten, menschenbewohnten und menschenbetriebenen Städten. Vielleicht findet in Tübingen eine vorzeitige Rückbesinnung statt, durch die gemeinsam alles darangesetzt wird, dass menschenbeanspruchte Lebensräume mit anderen Lebewesen geteilt werden. Mit ein wenig Glück würde es womöglich auch gelingen, bereits verschwundene Arten, wie beispielsweise die Braunkehlchen im Ammertal, wieder anzusiedeln. Bunte Wiesen wären dafür ein erster Schritt. Denn sie sind nicht nur schön anzusehen, sondern sie kühlen das Stadtklima im Sommer, binden Feinstaub, wirken Überschwemmungen entgegen und sparen Aufwand und Kosten für Pflege und Bewässerung.
Bunten Wiesen kümmern sich um sich selbst / Pflanzen auf Bunten Wiesen teilen gerne
Auch haben Bunte Wiesen den Verzicht verinnerlicht und das im Sinne der Natur: Je ärmer eine Mager-wiese an Nähstoffen ist, desto mehr verschiedene Arten können auf ihr leben. Das liegt daran, dass der Wettbewerb um Licht, Nährstoffe und Wasser nicht zugunsten schnell wachsender und sich rasch verbreitender Pflanzen ausfällt, die dann andere Arten verdrängen. Je mehr Pflanzenarten auf einer Wiese vertreten sind, desto vielfältiger ist das Nahrungs-, Wohnungs-, Rückzugs-, Überwinterungs- und Entwicklungsraumangebot für Tiere. Alles, was dafür zu tun ist, ist je nach Wiese das Mähen auf ein- bis maximal dreimal im Jahr zu reduzieren, mit anschließendem Entfernen des Verschnitts, dem Stehenlassen eines Altgrasstreifens als Überwinterungsrefugien für Insekten und dem Verzichten auf Düngemittel.
Spaziergang zwischen Erdhummeln und Heupferden
Bei einem Bunte Wiese Spaziergang mit Mitgliedern der Initiative lässt sich schnell feststellen, dass es auf diesen Wiesen schon nach wenigen Jahren viel zu entdecken gibt: Zwischen Hornklee, Glockenblumen, Wilder Karde und Natternköpfen, Storchschnabel und Zaunwinde sammeln Acker- und Erdhummeln, Bläulinge und Zitronenfalter Nektar, krabbeln querbindige Fallkäfer und Kohlwanzen, springen Grüne Heupferde und suchen Hausrotschwänze nach Insekten. Das eigene Leben scheint inmitten so viel Anderem mehr als lebenswert.
Auf die Frage an beide Mitglieder der Initiative, was Sie den Leser*innen mitteilen wollen, lautete die Antwort schlicht: „Es ist nie zu spät anzufangen“. Ob in Tübingen, Tuttlingen, Trier oder Töttelstädt. Ob im eigenen Garten, auf öffentlichen Grünflächen an Straßenrändern, Park- und Spielplätzen: Unsere Städte und Dörfer können bunter werden, es braucht nur den Willen und ein wenig Geduld.
Weitere Informationen findet ihr auf der Website oder auf dem Instagram-Account.