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Brave New World 2.0: GRM – Brainfuck von Sibylle Berg

Von Pia Eschenbach

Sibylle Berg entwirft in ihrer Dystopie „GRM – Brainfuck“ ein futurstisches Bild des ehemaligen Industriestaats England. Vier vernachlässigte Jugendliche schlagen sich den Weg durch ein Leben im Überwachungsstaat und widersetzen sich dem System. 600 Seiten gefüllt mit viel Wut, viel Systemkritik und viel Perversion. Ein sozialkritischer Roman.

Sibylle Berg beobachtet. Und sie beobachtet scharf. Wer schon einmal eine ihrer amüsant zynischen Spiegel-Kolumnen gelesen oder ihren Podcast mit Matze Hielscher, „WG Wesensfremd“, angehört hat, weiß, sie legt den Finger ganz tief in die Wunde. Es schwebt neben der ganz besonderen Art von Humor und beißenden Ironie häufig auch eine düstere, aussichtslose, fast schon depressive Stimmung mit. So auch in ihrem Roman „GRM-Brainfuck“, den sie 2019 veröffentlichte. „Brainfuck“, eine Programmiersprache und auch gleichzeitig der Untertitel des Romans. Und schon auf den ersten Seiten bekommt man eine Idee davon, dass mit „Brainfuck“ nicht unbedingt nur die Programmiersprache gemeint sein könnte. Die Liste der Triggerwarnungen zu diesem Buch dürfte seitenlang sein: Selbstverletzung, Tod, sexuelle Gewalt, Drogen, Armut und, und, und. Keine Lektüre der leichten Art.

Die Opfer des Systems

Die Geschichte beginnt in der „Brave New World“ des Ortes Rochdale im Vereinigten Königreich. Der Brexit ist längst durch, jegliche Art von sozialer Gerechtigkeit leider auch. Wir befinden uns in Großbritannien, in einer nicht allzu fernen Zukunft, nach dem Hier und Jetzt, als man die Digitalisierung noch nicht als Bedrohung, sondern vielmehr als Chance empfand. Zwar gab es damals schon mahnende Stimmen und Bedenken, aber so weit würde es doch niemals kommen. Oder…?

Für vier Jugendliche, die Protagonist*innen des Romans, ein schlechter Scherz. Sie müssen nun damit klarkommen, was ihnen hinterlassen wurde. Eine Mittelschicht gibt es nicht mehr, umso größer ist jedoch der Reichtum, der sowieso schon Reichen geworden. „[Don, weiblich] wartete nicht mehr auf Liebe, wartete nicht darauf, dass da so etwas wie eine Zukunft vor der Haustür wuchs. Da würde nichts mehr wachsen. Da war Wüste von den Alten hinterlassen, mit diesen sogenannten Lebensbedingungen.“ (S.17)
Hannah, Peter, Don und Karen wachsen unbehütet in einem Armenviertel in Rochdale auf. Sie gehören zur untersten Unterschicht. Ihre Eltern sind mit neuen Partnern durchgebrannt oder verstorben. Um sie herum herrschen Obdachlosigkeit, Langeweile, Gewalt, und die Polizei hat die Randbezirke bereits aufgegeben – zu gefährlich. Jedes Kind trägt sein eigenes Schicksal mit sich herum und sie teilen dasselbe Gefühl: Die Wut auf das System, dem sie ihr jetziges Leben zu verdanken haben.

Kaum Platz für Träume, außer in der Musik

So erfolgreich sein wie die Grime-Stars. Bild: Flickr.

In ihrer aussichtslosen Jugend flüchten sie sich in GRM. GRM meint „Grime“ (dt. Dreck) und ist die Bezeichnung für eine Musikrichtung, die Anfang der 2000er in London entstand. Die Musikrichtung hat so viel mit ihrem Leben gemein: roh, aggressiv, düster. Gewalt und Hass spielt in den Texten von Grime-Stars eine große Rolle. Die Jugend wagt es, davon zu träumen, selbst ein Grime-Star zu werden und auf YouTube mit trendy Turnschuhen, teuren Autos und blinkenden Goldketten zu posieren.
Um ihrem Elend zu entkommen, schlagen sich auch die Held*innen des Buches illegalerweise nach London durch, wo sie sich eine glamouröse Zukunft erhoffen und versuchen, außerhalb des Systems zu (über)leben. In der scheinbar funktionierenden Großstadt werden die Menschen zwar permanent überwacht, aber sie sind doch so glücklich, oder?

Die „Brave New World“

Orientieren wir uns an dem Roman hinsichtlich der digitalen Entwicklung unserer Zukunft, leben wir bald in einer gespaltenen, autokratischen Gesellschaft, angetrieben von der auf neoliberalen Prinzipien beruhenden brutalen Durchsetzung eines gnadenlosen Kapitalismus. In einer Welt der bedingungslosen Automatisierung haben die meisten Menschen keinerlei berufliche Perspektive mehr. Für sie ist es das Ziel des Staates, so schreibt Berg: „Alle Sozialleistungen auf ein Minimum zu reduzieren, um die starken, arbeitsamen Bevölkerungsschichten zu fördern. Beziehungsweise. Zu sparen. Beziehungsweise. Um das Land auf seinem neoliberalen Kurs zu halten. Die Verachtung gegenüber den Armen hatte sich institutionalisiert.“ (S.28)

Orte werden in der „Brave New World“ von Algorithmen nach ihrer Rentabilität bewertet, der Lieferroboter hat längst schon den Paketboten ersetzt, Sozialwohnungen sind mittlerweile Privateigentum und die Wasserversorgung ist ebenso privatisiert. Internetzugriff hat jede*r, Männer fühlen sich überlegen. Gegenüber Frauen, gegenüber Kindern, die wichtigen Positionen sind besetzt von Männern. „Außerordentliches war Männersache, die interessanten Aktivitäten gingen von Männern aus.“ (S.30) Die Rolle der Frau dementsprechend: „Befördert werden immer jüngere, selbstbewusste Männer. Die Frau mit den dünnen Haaren bekam kein Geld für Forschungen, das bekamen auch die Männer […]. Fast jede [Frau], die heute als Fahrerin, Reinigungskraft oder Küchenhilfe arbeitet, ist eigentlich Ingenieurin oder Ärztin gewesen. Gehabt. Vorbei.“ (S.577)

Biete: Privatsphäre – Bekomme: Grundeinkommen

All eyes on you – Die Beschönigung des totalitären Überwachungsstaats. Bild: Istockphoto.

Hinzu kommt die totalitäre Überwachung nach chinesischem Vorbild. Für ein geregeltes Grundeinkommen tauscht man die eigene Privatsphäre ein und lässt sich einen Chip implantieren. So hat jede*r einen Avatar auf Basis der persönlichen Daten.

„Der Kunde blickte in eine Kamera. Das Gesicht wurde an die Datenbank übermittelt, in Sekundenbruchteilen ein Chip mit den Daten des Betreffenden geladen. Geräte-IDs, biometrische Passangaben, Konten, Adresse, Krankheitsakte, Strafregister, sexuelle Vorlieben, Freundeskreis, Familie, soziale Auffälligkeiten, Vorstrafen.“ (S.233)

Der Großteil der Bevölkerung feiert das System, sie sind dankbar für die Chance und Identität, die ihnen gegeben werden – wenn man nicht auf die Idee kommt, sich zu widersetzen. Hannah, Peter, Don und Karen boykottieren das System und während sie ihre eigene Revolution leben, hoffen sie auch auf das Erwachen der Bevölkerung. Vergeblich.

„Ist das nicht zu privat?“ Fragt eine Frau. „Dass die wissen, dass ich in den Wechseljahren bin? Und dass ich fremdgehe?“ … Die. „Wer sind die?“, flackert es im Land durch Millionen Hirne…  […] und – „Kann man das auch zu Hause empfangen, das Programm?“, fragt eine Frau, „da hätte ich alle Informationen zu meinen Nachbarn.“ In dem Moment weiß Hannah, dass die Freunde verloren haben.“ (S.551 f.)

Ist „GRM – Brainfuck“ eine Beschreibung dessen, was auf uns alle wartet?

Ob die Zukunft unserer Gesellschaft tatsächlich eines Tages so aussehen wird, kann wohl niemand so genau sagen. Was sicher ist, ist jedoch, dass es sich bei diesem Sozialdrama nicht ausschließlich um Situationen in der Zukunft handelt, vielmehr lassen sich nicht selten Parallelen zwischen dem Leben im geschilderten futuristischen London und der Gegenwart erkennen.
Der Schauplatz der Geschichte ist wahrscheinlich nicht zufällig ausgewählt worden: Es lässt sich mutmaßen, dass Großbritannien von allen europäischen Industriestaaten am ehesten einen Bruch mit europäischem Kulturgut hin zu einem totalitären Überwachungsstaat zumuten ließe. Der Brexit, der in diesem Roman verhältnismäßig häufig erwähnt wird, stellt in diesem Fall die Weichen in eine solche Richtung.

Berg torpediert die klassische Erzähltechnik

Autorin Sibylle Berg. Bild: Flickr.

Gewisse soziale Strukturen und das Verhalten der Menschen, wie es bereits im Hier und Jetzt stattfindet, wurden messerscharf beobachtet, konsequent weitergedacht und mit viel Ironie niedergeschrieben. Die Ironie und der beißende Humor sind wichtig für die Leser*innen, um die beängstigende Stimmung und das bedrückende Gefühl, welches einen beim Lesen von „GRM“ ergreift, überhaupt ertragen zu können.
Der Schreibstil des Romans fällt, wie die Person Sibylle Berg selbst auch, aus der Reihe und es dauert wohl eine Weile, bis man sich an Zeilensprünge, unfertige Sätze und die derbe Sprache gewöhnt hat. Passagenweise hat man den Eindruck, Zeugin bzw. Zeuge des genauen Gedankengangs der Autorin während des Schreibprozesses zu sein und dafür muss man offen sein.
Die gegen Ende etwas langatmige Story ist möglicherweise der überbordenden Fantasie Bergs geschuldet, die allem Anschein nach über unendliche Mengen an Material für die dystopische Darstellung des kapitalistischen Großbritanniens verfügte. Aber: die detaillierten Beschreibungen von unschönen Umständen nehmen der Geschichte keineswegs ihre Spannung.

Fazit: Harter Stoff, aber wer’s nicht kennt, hat was verpasst.