Bild: Robert Nieto/George Margelis

Und plötzlich war ich Filmemacher

Ein Portrait über Marcus Vetter

Von Lea Bauer

Alles Fiktion? Nicht bei Marcus Vetter. Er findet seine Geschichten auf der Straße und verwandelt sie in spannende Dokumentarfilme. Doch wie kam er zu diesem Genre und wie konnte der Studiengang Medienwissenschaften an der Universität Tübingen zu seiner beruflichen Laufbahn beitragen?

Marcus Vetter wurde 1967 in Stuttgart geboren. Seine Mutter ist gebürtige Deutsche, sein Vater kommt aus der Türkei. Zunächst studierte er European Business Management an einer Fachhochschule, bemerkte dann aber, dass er nicht in diesem Bereich arbeiten wollte.
Das Interesse am Film packte ihn während eines Praktikums bei Bavaria Film in München. Dort arbeitete er vor allem im Spielfilmbereich und entschied sich, einen filmischen Master anzutreten. Neben dem Studiengang Medienwissenschaften an der Universität Tübingen bewarb er sich auch in Ludwigsburg an der Filmakademie. Die Entscheidung für Tübingen fiel spontan: Marcus Vetter wollte nach seinem Hochschulabschluss lieber an einer Universität studieren.

Bereut hat er seine Wahl nicht. Am Studiengang Medienwissenschaften gefiel ihm vor allem die Möglichkeit, Einblicke in verschiedene Medienbereiche zu erlangen. Sowohl praktische Tätigkeiten als auch die wissenschaftlichen Analysen begeisterten ihn. „Alles, was praktisch war, hat mich weitergebracht“, sagt Marcus Vetter und verweist dabei auch auf das Erstellen von Hörfunkbeiträgen ̶ eine praktische Tätigkeit, mit der er heute weniger zu tun hat.

Unter den theoretischen Vorlesungen erinnert er sich vor allem an einen Kurs zur Nachrichtenanalyse. Dort untersuchte er mit Kommiliton*innen die Wahrnehmung von Tagesschaubeiträgen. Dabei fanden sie heraus, dass es schwer für Zuschauer*innen sein kann, Inhalte zu verarbeiten, wenn Bild und Ton nicht wirklich gut zusammenpassen. Das kommt zum Beispiel dann vor, wenn ein Sprecherkommentar aus dem Off über die Szene gelegt wird. „Das hat mir natürlich auch für meine Filme geholfen. Ich verwende keine Kommentare, sondern versuche, die Geschichte mit Szenen und mit starken Protagonisten zu erzählen.“

„Und was ich insgesamt gut fand, dass ich als Abschlussarbeit einen Spielfilm machen konnte“, erzählt Marcus Vetter und erinnert sich an die Vergangenheit. Damals stellte er gemeinsam mit einer Studienkollegin einen 60-minütigen Kinderspielfilm auf die Beine. Weil die Universität Tübingen sehr fortschrittlich war, konnten sie den Film bereits non-linear schneiden ̶ eine Schnittvariante, die damals noch neu auf dem Markt war. In der Branche arbeiteten viele Kolleg*innen immer noch mit dem linearen Schnitt, mussten also alle Szenen hintereinander kopieren und hatten keine Möglichkeit, später etwas dazwischen einzufügen. Dass Marcus Vetter von der Universität kam und ein Schnittprogramm beherrschte, das noch neu in der Branche war, verschaffte ihm große Vorteile. Als er nach dem Studium eine Stelle als freier Redakteur beim SWR antrat, war er dort einer der wenigen, die diese Schnitttechnik beherrschten.

Begonnen bei der Theater-Kleinkunst-Redaktion des SWR gelangte Marcus Vetter über die Landesschau unterwegs zum SWR-Sendeplatz Zeichen der Zeit. Dort produzierte er Kurzbeiträge über Themen, die die Welt bewegten, und traf zum Beispiel einen Mörder, der nach 18 Jahren Haft das Gefängnis verlassen durfte. Im selben Rahmen entstand auch das Doku-Drama Der Tunnel, der zunächst zehn Minuten lang war, dann aber als 90-minütiger Film umgesetzt wurde. „Und plötzlich war ich Filmemacher“, sagt Marcus Vetter.

Von da an nahm die Karriere ihren Lauf: Zur Jahrhundertwende folgte eine Trilogie über die Finanzmärkte ̶ ein Themenfeld, dass Marcus Vetter auch später noch beschäftigen sollte. Denn bereits in den Jahren 2007 und 2008 kommt es erneut zu einer Finanzkrise, auf die er im Film The Forecaster eingeht.

Ein weiterer Meilenstein seiner Geschichte ist wohl der Film Mein Vater der Türke, der 2006 veröffentlicht wurde und das letzte Werkstück ist, das noch unter dem Produktionsdach des SWR entstand. Bei diesem Dokumentarfilm widmet sich Marcus Vetter seiner eigenen Familiengeschichte. Er erzählt, wie sich seine Mutter in seinen Vater verliebt, dieser jedoch bereits Frau und Kinder in der Türkei hat. Als seine Mutter mit ihm schwanger wird, möchte sein Vater die beiden in die Türkei holen ̶ er hat sich immer einen Sohn gewünscht. Dieses Unterfangen gelingt jedoch nicht und Marcus Vetter wächst ohne Vater und ohne Kontakt zu seinen Halbschwestern auf. Beim Dokumentarfilm Mein Vater der Türke trifft Marcus Vetter 38 Jahre nach seiner Geburt das erste Mal auf seine türkische Familie. Endlich kann er die Fragen an seinen Vater stellen, die ihn jahrelang beschäftigt haben.

Seit 2006 setzt Marcus Vetter seine Filme innerhalb der eigenen Produktionsfirma Filmperspektive um. Dort entstehen unter anderem Dokumentarfilme über die palästinische Stadt Jenin, die Problematik des Hungers und das World Economic Forum. Immer im Fokus seiner Werke sieht Marcus Vetter die Emotionen und die Würde. „Der Zuschauer sitzt gerne so da beim Film“, erklärt Marcus Vetter und verschränkt die Arme vor der Brust. „Die möchten sich vom Film erobern lassen. Und wenn man dem Film so etwas Ähnliches wie Würde verleiht, glaube ich, dass der Zuschauer das spürt. Gerade im Dokumentarfilm sollte man seine Protagonisten nicht verraten und trotzdem auch seine Abgründe zeigen, genauso wie seine wunderbaren Seiten.“ Ein Film muss also ein gutes Mittelmaß zwischen Ver- und Enthüllung meistern und darf dabei nie über das Ziel hinauszuschießen. „Man muss seinen Protagonisten respektieren und darf ihn nicht verkaufen. Meine Redakteurin hat mal gesagt, man muss seine Protagonisten versuchen zu lieben.“

Den Schritt zur eigenen Firma wagte Marcus Vetter vor allem, weil er größere Projekte verwirklichen wollte, die beim SWR nicht mehr möglich gewesen wären. Er brauchte mehr Zeit und auch mehr Geld. Für den Film Mein Vater der Türke waren nur etwa 6 Wochen Schnitt eingeplant ̶ das hätte für seine späteren Projekte nicht mehr ausgereicht. Der Film Das Herz von Jenin beispielsweise zog sich über drei Jahre.

Doch woher stammen die Gelder, mit denen Marcus Vetter fortan seine Filme realisiert? Kurz gesagt: von Filmförderungen. In Baden-Württemberg ist die Anlaufstelle für filmische Unterstützung die MFG (Medien- und Filmgesellschaft). Dort können Produktionsfirmen Gelder beantragen. Meist wird gerade am Anfang verlangt, dass eine bekannte Koproduktionsfirma mitwirkt und wenn der Film in einem anderen Land spielen soll, wird meist auch eine internationale Firma hinzugezogen. Häufig sind zudem von Anfang an europäische Sender beteiligt. Bei größeren Projekten arbeiten also meist mehrere Institutionen zusammen.

Wichtig ist für Marcus Vetter vor allem eines: Er möchte sich nicht verbiegen und auf Augenhöhe mit seinem Gegenüber agieren. Das ist auch einer der Gründe, warum er sich für das Genre Dokumentarfilm entschied. Im Vergleich zu Spielfilmen ist das benötigte Budget in diesem Bereich noch relativ niedrig, wodurch der Gestaltungsspielraum der Filmemacher weniger stark von Finanzgebern beeinflusst werden kann. Neben der künstlerischen Freiheit sieht Marcus Vetter auch in der Herangehensweise an das Thema einen Vorteil von Dokumentarfilmen: „Jeder Film ist wie eine kleine Studie. Wenn du so einen Film machst, kannst du dich in Geschichten, in Themenfelder begeben, zu denen du sonst nur sehr schwer Zugang bekommst und die du auch nicht verstehst. Während dem Projekt tauchst du in die Thematik ein und bist am Ende wirklich sehr viel klüger geworden.“ Als Beispiel erzählt Marcus Vetter von seinem Film Hunger, bei dem er sich mit der Nahrungsproblematik beschäftigte. Im Film werden unter anderem Menschen porträtiert, die vom Hunger geprägt sind. Zudem beleuchtet das Werk die sozialen, politischen und ökonomischen Dimensionen, die zu dieser Situation führen.

Die theoretische Herangehensweise ans Produzieren, die man Marcus Vetter an der Universität Tübingen beibrachte, prägt ihn noch heute beim eigenen Arbeitsprozess. Oft lässt er seine Filme noch vor der finalen Veröffentlichung von Zuschauern probeschauen. „Ich mache Screenings mit Menschen, die mit Filmen nichts zu tun haben. Ein Film geht nicht ohne 15 Screenings aus dem Schneideraum und wenn man sich als Produzent darauf einlässt und fragt: ‚Sind die Filme langweilig? Wo sind die Filme langweilig?‘, dann bekommt man auch Antworten und kann kürzen, verbessern ̶ das ist das Geheimnis eines guten Filmes.“

Dennoch wird nicht jeder Dokumentarfilm im Kino von Besuchern überschwemmt. Der Marktanteil ist allerdings auch keine Größe, mit der Marcus Vetter seinen Erfolg misst. Früher produzierte er Fasching- und Volkstheater-Aufnahmen, die eine Einschaltquote von etwa 25% im Fernsehen erreichten ̶ eine Menge, die ihm mit seinen Dokumentarfilmen heute nicht gelingt. Anstatt auf die Zuschauerzahl zu achten, geht es Marcus Vetter darum, wie seine Rezipienten den Film wahrnehmen. „Ich glaube, wenn man Filmlinks verschickt an ganz unbekannte Menschen und sie zurückkommen und sagen: ‚Mann, das war ja ein spannender Film‘ und dass jeder Film einen anders berührt, dann weiß man, dass man echt gute Filme gemacht hat.“

Auf Grund der wichtigen Themen, um die sich Dokumentarfilme häufig drehen, werden sie auch gerne im Nachgang als Inspiration für Spielfilme verwendet. Für seine berufliche Zukunft könnte Marcus Vetter sich auch vorstellen, einmal Werke in diesem Genre zu produzieren. „Es gibt viele Geschichten, die man im Dokumentarfilm nicht erzählen kann, weil zum Beispiel das Archivmaterial nicht da ist, weil es in der Vergangenheit spielt.“ Trotzdem möchte er dabei immer in der Realität bleiben: „Die absolute Fiktion interessiert mich gar nicht.“

Quellen:

  • Webseite von Marcus Vetter: https://marcus-vetter.com/de/start/ 
  • Film Das Herz von Jenin: https://marcus-vetter.com/de/herz-von-jenin 
  • Film über das World Economic Forum: https://marcus-vetter.com/de/das-forum/ 
  • Film Forecaster: https://marcus-vetter.com/de//the-forecaster-de 
  • Film Mein Vater der Türke: https://marcus-vetter.com/de/mein-vater-der-tuerke/