Encantos fehlende „Einzigartigkeit“ – Ein großes Disney-Problem?
Ein Kommentar
Von Richard Freutel
Encanto verspricht schon im Namen etwas Magisches. In der Tat kann der Film einiges an Magie zeigen, doch wie reiht er sich im Vergleich zu anderen Disney-Klassikern ein, wenn es um den „Wert“ des Films geht? Zu diesem Zweck wurde in diesem Beitrag der Film aus einer philosophischen Sicht betrachtet und auch ein Blick auf die Rolle der Streaming-Plattform Disney+ geworfen.
Es ist Zeit für ein Resümee: Am 24.12.2021 wurde mit dem schrulligen und bunten Animations-Musical Encanto, unter der Regie von Byron Howard und Jared Bush, der mittlerweile sechzigste Animationsfilm der Walt Disney Animation Studios auf der Streaming-Plattform Disney+ veröffentlicht. Co-Regisseur Byron Howard hat schon einige renommierte Werke wie Lilo & Stitch, Zootopia oder den fünfzigsten Disney-Film Rapunzel – Neu verföhnt verfilmt.
Um die Handlung kurz zusammenzufassen, muss man wissen, dass es im Film Encanto um die kolumbianische Familie Madrigal geht. Die jetzige Großmutter des Hauses Alma Madrigal musste in ihrem jüngeren Leben mit ihrem Mann und den drei Kindern aus ihrer alten Wohnstätte fliehen, wobei ihr Mann ums Leben kam. Von einer magischen Kerze geschützt, erhielt sie ein Haus, in welchem sie dann mit ihren Kindern wohnt. Nach und nach erhalten sie von der Kerze aber auch magische Fähigkeiten, die die Familienangehörigen im Dorf zum Guten einsetzen sollen. Der Film dreht sich um die 15-jährige Protagonisten Mirabel Madrigal, die als einzige in der Familie keine besonderen Fähigkeiten hat. Dies führt zunächst zu einigen Konflikten mit der Familie, da sich Mirabel dadurch sowohl einsam fühlt als auch von der Familie teils herablassend behandelt wird. Jedoch stellt sich zum Ende hin heraus, dass Mirabel für das Familienschicksal gar nicht so unbedeutend ist, wie gedacht…
Encanto ist ein Werk, welches sich trotz seiner Bildgewalt und farbenfroher Mis-en-Scène nicht in die Tradition der bemerkenswerten Disney-Klassiker einreihen kann. Grund hierfür ist, dass der Film im Vergleich zu seinen Vorgängern wie z.B. Der König der Löwen, Robin Hood, Aristocats, sowie auch neueren Titeln wie Soul, Luca, Frozen oder dem thematisch ähnlich angesiedelten Coco einen zentralen Aspekt vermissen lässt. Encanto besitzt keinen wirklichen „Wert“ an sich.
Der auratische Wert nach Walther Benjamin
Was man als „einen Wert besitzend“ bezeichnen kann, ist selbstverständlich subjektiv. Gerade bei Animationsfilmen erscheint dementsprechend eine definitive Einordnung eines Films anfänglich schwierig. Jedoch wurde genau dieses Unterfangen bereits von Walter Benjamin vorgenommen, mit seinem Essay Das Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit, das im Jahr 1936 in französischer Sprache publiziert wurde. [1]
Benjamin ging von der zentralen These aus, dass moderne Kunstwerke, worunter er unter anderem auch das damals noch junge Medium Film sah, aufgrund des technischen Fortschritts einem drastischen Wandel im Vergleich zur klassischen Kunst ausgesetzt seien. Das moderne Kunstwerk ist in einem viel größeren Maße reproduzierbar. Nicht nur für den Rezipienten habe das eine Auswirkung, der ein Kunstwerk nun viel einfacher erleben kann, sondern eben auch für den Produzenten, der ein Kunstwerk nun bewusster für die große Masse herstellen kann. Die Art des Kunstwerks verändert sich somit, was sich zuerst, so Benjamin, in der Photographie bemerkbar gemacht habe, in welcher das Auge „schneller erfaßt, als die Hand zeichnet“. [2]
Einen wichtigen Aspekt, den man für die Eingliederung des „Wertes“ eines Kunstwerks aus Benjamins These ziehen kann, ist das, was er als „Echtheit“ bezeichnet. [3] Denn in der Reproduzierbarkeit würde einem Kunstwerk der Wert der Einmaligkeit entzogen, was sich zum Beispiel am Erleben eines Kunstwerks an nur einem bestimmten Ort erkennen ließe. Um dies etwas genauer zu beschreiben: Ein Gemälde oder eine Skulptur ist nur an einem bestimmten Ort für den Rezipienten direkt erlebbar. Ein Film hingegen kann von vielen Personen an den unterschiedlichsten Orten gesehen werden.
Doch was bedeutet dies nun für Disneys Encanto? In diesem Fall kann diese künstlerische Entwicklung in der Tat ebenso bemerkt werden: Der Film reiht sich in die Liste der noch jungen Filme ein, die unter der Schirmherrschaft der Streaming-Plattform Disney+ mehr oder weniger zeitgleich zum Kinostart auch online herausgebracht werden. Hier kommt Benjamins Theorie der Reproduzierbarkeit zu tragen: So warten die großen Studios wie Disney nicht mehr, bis das Kino-Erlebnis bei den Zuschauern abgeklungen ist, um eine Blu-Ray in den Einzelhandel zu bringen oder seine Filme auf der Online-Plattform darzubieten. Einerseits muss man anerkennen, dass es umso besser ist, je mehr Zuschauer ein Film erreichen kann. Andererseits ist diese Art der Distribution nicht gut für das Kinokultur an sich, da man sich als Elternteil unweigerlich die Frage stellen wird, weshalb man für den Kinobesuch überhaupt so viel Geld für die Anreise, Vorplanung und Kinotickets mit eventueller Versorgung ausgeben sollte, anstatt einfach einen monatlichen Betrag zu zahlen und den Film direkt von der Couch aus zu sehen. Interessanterweise geht diese Entwicklung nun so weit, dass Filme bereits vor dem eigentlichen Kinorelease auf Disneys Plattform erscheinen. So erschien der Film Luca zuerst am 18. September 2021 auf Disney+, bevor er am 30. September seinen Weg in die deutschen Kinos fand.
Letztlich ist dieses Phänomen vor allem schade für die Kinokultur, da viele Kindheitserfahrungen von Filmen auf der großen Leinwand gemacht wurden, ob es nun ein Teil der Harry Potter-Serie, Star-Wars, Der Herr der Ringe oder eben der traditionellen Disney-Klassiker war. Ein Aspekt des „Wertes“ wird somit unnachgiebig vermindert, wenn die Erinnerung an den ersten Kinobesuch ausbleibt und man einen Film wie so vieles andere auch „nur“ von zu Hause aus erlebt.
Die filmische Aura
Jegliche Änderungen des Mediums sowie des Individuums sind in der Art und Weise, wie er/sie die Kunst wahrnimmt, sowohl natürlich als auch geschichtlich bedingt. [4] Mit der gesellschaftlichen Veränderung sieht Benjamin auch einen Zerfall der „Aura“. Die Aura unterscheidet er in eine kulturell geschichtliche und in eine natürliche. Die letztere sieht er als „einmalige Erscheinung der Ferne, so nah sie sein mag“. Anders formuliert, ist die Natur, und somit ihre Aura, für den Menschen nie vollständig greifbar. Er führt weiter aus:
„Die Einzigkeit des Kunstwerks ist identisch mit seinem Eingebettetsein in den Zusammenhang der Tradition. Diese Tradition selber ist freilich etwas durchaus Lebendiges, etwas außerordentlich Wandelbares. Eine antike Venusstatue z.B stand in einem anderen Traditionszusammenhang bei den Griechen, die sie zum Gegenstand des Kultus machten, als bei den mittelalterlichen Klerikern, die einen unheilvollen Abgott in ihr erblickten.“ (Benjamin, S. 21)
Der Wert eines Kunstwerks ergebe sich somit aus dem Zusammenhang, den das Kunstwerk in seiner Tradition, die anfangs aus dem Magischen und später aus dem Religiösen entstand. Inne hat. Die Kunst sei laut Benjamin ein Teil eines Kultes oder Rituals. Heute steht die Kunst ganz im Zeichen einer Massenproduktion: Das Einmalige wird überwunden und dem Menschen durch die Reproduzierbarkeit somit näher gebracht.
Unter diesem Aspekt ist Encanto nun zu betrachten: Inwiefern gelingt es dem Film, bei dem Massenangebot von Disney-Filmen „Einzigartigkeit“ zu zeigen? Die Antwort lautet, dass der Film dies eben nicht kann. Denn der Aspekt, der den Film wirklich interessant gemacht hätte, wäre, wenn man die kolumbianische Kultur in die Identität des Filmes eingespeist hätte, wie es auch schon andere Disney-Filme wie Mulan oder Coco taten. Zum Vergleich: Die Musik von Encanto hat keinen wirklich kolumbianischen Stil, sondern beinhaltet eher popkulturelle Lieder im US-amerikanischen Stil. Dahingehend wurden in Coco teilweise ganze Lieder auf Spanisch gesungen und auch der Tag der Toten spielte eine zentrale Rolle. Encanto legt sich zwar sporadisch das kolumbianische Gewand an, ohne es aber jemals zu einem relevanten Teil der Handlung zu machen. Man könnte den Film genauso gut in einem deutschen oder taiwanesischen Dorf spielen lassen, ohne dabei Grundlegendes an der Handlung verändern zu müssen.
Ein weiterer, wenn auch individuell gesehener Kritikpunkt ist, dass die zentrale Botschaft in Encanto hinkt. Die These, dass man keine besonderen Fähigkeiten haben muss, um geliebt zu werden, ist an sich zwar löblich, wird zum Ende hin aber dennoch revidiert. Mirabel ist nämlich, obwohl sie stets als eine Person ohne besondere Fähigkeiten dargestellt wurde, zum Ende hin für das Schicksal des gesamten Hauses Madrigal verantwortlich. Somit bleibt der Film seiner anfänglichen Botschaft, die jedem Mensch einen Wert, unabhängig von dessen Fähigkeiten, zuschreibt, nicht treu.
Was bleibt
Zuletzt sei damit zu resümieren, dass Encanto ein Film mit lustigen Momenten und auch tollen Bildern ist. Jedoch verpasst er zu viele Gelegenheiten, sich ein Alleinstellungsmerkmal, oder eben den Moment der „Einzigartigkeit“, anzueignen. Ein Gefühl, wirklich in Kolumbien bei der Familie Madrigal zu sein, wird nie wirklich in der Fülle genutzt, und auch die Botschaft des Kinderfilms ist nicht konsequent genug umgesetzt. Somit ist Encanto viel Zauberei, jedoch mit einem zerbrochenen Zauberstab.
Quellen:
[1] Siehe Benjamin, Walter. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Berlin, Suhrkamp Verlag. 2020.
[2] Siehe Benjamin, Walter. S.10.
[3] Siehe ebd. S. 13.
[4] Siehe Benjamin, Walter. S. 18.