Der Gute Alte Leserbrief
Gegenseitiger Austausch oder Stimme der Oberschicht?
Von Frida Knödler
Aus deutschen Zeitungen und Zeitschriften ist er nicht mehr wegzudenken: Der Leserbrief bietet allen die Möglichkeit, ihre Meinung zu äußern und Artikel frei zu kritisieren – theoretisch. Ein Blick in die Tageszeitung zeigt: Der Frust bestimmter Leser*innen wird öfter gedruckt als der manch anderer. Sie können also gerne einen Leserbrief schreiben und abschicken, kein Problem, niemand hält Sie auf, aber dass Sie Ihren kleinen Textabschnitt beim Durchblättern der nächsten Auflage wiederfinden, ist relativ unwahrscheinlich. Warum? Sie sind kein Karl, kein Heinz und leider auch kein Karl-Heinz.
Es ist Sonntag. Sagen wir, …10 Uhr. Der Kaffee kocht, das Brot ist leicht angebrannt, und die Zeitung vom Vortag liegt noch verknittert auf dem Tisch.
Auf der zweiten Seite des Regionalteils haben sie sich diesmal versteckt, die Leserbriefe. Das recycelte Papier der Zeitung ist ganz klebrig in den Händen. Vielleicht ist es der Schweiß des Wohlstandsnörglers, der jeden Tag hart arbeitet, um seine bereichernden Anmerkungen an die Redaktion zu schicken.
Oder es ist dein Schweiß, weil du merkst, dass Helmut, Hartmut, Rainer und Klaus-Dieter anscheinend viel mehr wissen als du, mal ganz davon abgesehen, dass dieses Szenario so oder so unrealistisch ist, denn welcher Studierende bezahlt schon 32,90 Euro im Monat für eine Tageszeitung, 30% Studierendenrabatt hin oder her. Aber bevor wir die Zeitung ganz aus unserem einstudierten Wochenritual streichen, zurück zu den Leserbriefen.
Die – meist kritischen – Kommentare sind ein fester Bestandteil aller deutschen Zeitungen und Zeitschriften. Der erste Leserbrief erschien 1786 in den „Moralischen Wochenschriften“ und wurde vom Pfarrer, das heißt, vom Herausgeber selbst verfasst. [1] Heute ist das anders. Mal abgesehen von der Redaktion kann jede*r einen Leserbrief schreiben, oder? Theoretisch schon. Aber wie erklärt man dann die ernüchternde, akademische Bevormundung, die einem morgens auf der besagten Seite mit den Leserbriefen begegnet? Traut sich nicht jede*r einen Text an die Redaktion zu schicken? Oder werden nur bestimmte „Briefe“ gedruckt?
Dr., Dr. med., oder Prof. Dr. med. – Darauf ist man(n) stolz
Die Kommunikationswissenschaftlerin Andrea Mlitz bestätigt dem Deutschlandfunk: Es sind besonders viele Akademiker, die mit ihren eloquent formulierten Leserbriefen Sachverhalte richtigstellen wollen, natürlich stolz gezeichnet mit Dr., Dr. med., oder Prof. Dr. med [1]. Frei zitierte Verse von Schiller [2], die nicht aus Zwang in der Schule, sondern später an der Universität freiwillig analysiert, dekonstruiert und interpretiert wurden, sind da keine Seltenheit. Letztendlich machen aber die Kleinigkeiten den Unterschied: „Der Mann heißt nicht Freiherr vom Stein, sondern Freiherr vom und zum Stein und er initiierte nicht die Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde, sondern die Gesellschaft für Deutschlands ältere Geschichtskunde, die von dieser Gesellschaft herausgegebene Sammlungen waren nicht die Documenta Germaniae Historica sondern die Monumenta Germaniae Historica.“ [1]
Ulrich, Wolfgang, Hans und Hans-Jochen kommen öfter zu Wort als Basti und Leon
Gut, dass wir das klargestellt haben. Apropos „ältere [D]eutsche“: Die meisten Verfasser von Leserbriefen sind laut Mlitz über 50 Jahre alt. [1] Deswegen kommen Ulrich, Wolfgang, Hans und Hans-Jochen auch öfter zu Wort als Basti, Leon, Sasha und Julian Pascal, zumindest in den gedruckten Zeitungsausgaben.
Online sieht das ganz anders aus. Dort kann wirklich jede*r Halbwissen ohne großen Aufwand teilen. Das sind dann sogenannte „Lesermeinungen“ [3]. Die Themen bleiben die gleichen. Corona, Impfpflicht, Gendersternchen* (Lothar und Wolfgang sind übrigens nicht begeistert…) und Klimapolitik werden in Leserbriefen besonders oft diskutiert. Moment – wurde hier etwa das ein oder andere * vergessen? Nein, leider nicht. Denn wer über die Tendenzen des Leserbriefs berichtet, muss einsehen, dass es mehr Verfasser als Verfasserinnen gibt. [1] Wer sich also bis jetzt einen älteren Herrn im Frühruhestand vorgestellt hat, liegt eigentlich genau richtig. Trotzdem wollen wir Beate und Jutta-Beate nicht länger ausschließen.
Darauf erstmal einen Schluck lauwarmen Kaffee. Das verschnörkelt-süße Design deiner Billo-Tasse beißt sich dabei mit den bitteren Zeilen über eingeschränkte Freiheitsrechte und demokratische Werte, von denen anscheinend nur Holger und Hartmut etwas verstehen. Noch ein Schluck. In einem kurzen Textabschnitt am linken Seitenrand bekennt sich Rolf zum Verbrennungsmotor. Wehmütig erinnert er sich an die guten alten Zeiten, als Tempolimits auf deutschen Autobahnen ein Widerspruch an sich waren und Umweltvereine nicht gewagt haben, ihm etwas vorzuschreiben, gar zu verbieten. [4] Armer Rolf. Du stellst die Tasse wieder ab. Der kitschige live-laugh-love Aufdruck ist dir jetzt fast schon peinlich. Was glitzert denn daneben? Die verlorenen Gendersternchen…? Zurück zum Thema.
Wie gesagt, Leser*innenbriefe ermöglichen den Austausch mit der Redaktion. Doch trotz der hohen Dichte an Privilegien klebt zwischen den Zeilen oft ein frustrierter Unterton. Wie bereits erwähnt sind die Kommentare meistens kritisch. Neben „Ihr Artikel leidet an einem ganz grundsätzlichen Missverständnis“ [2] und “Als geimpftes Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft widerspreche ich der von Ihnen zitierten Studie“ [5] – oder ganz kurz angebunden: „Es nervt.“ [2] – finden sich vereinzelte „Sehr gelungen!“ [5] oder auch mal ein „Herzliches Dankeschön.“ [5] Letztendlich ist der Leserbrief (das Wort wird leider nicht weiter gegendert, Sorry Jutta) in dieser Hinsicht relativ normal, denn den allermeisten Sachen die gut laufen, schenken wir ja auch im Alltag nur wenig Aufmerksamkeit. Die Politik streikt, die Bahn auch, und statt dem ie steht ein i, mal abgesehen von dem fehlenden n im Doppel-n von denn.
Die Frankfurter Allgemeine erhält täglich über 100 Leserbriefe
Belanglosen Kleinigkeiten werden dabei in den meisten Fällen genauso viel Platz geboten wie wirklich wichtigen kritischen Auseinandersetzungen mit Politik und Gesellschaft. Wobei die Qualität der Leserbriefe auch davon abhängt, in welcher Zeitung sie veröffentlicht werden. Rainer Links Artikel zitiert dafür aus einem besonders frustrierten Leserbrief aus der BILD zum Thema Guantanamo, dem US-amerikanischen Militärgefängnis auf Kuba: „Selbstverständlich sollte Deutschland diese Leute aufnehmen. Dann könnten diese Leute hier herrlich von unseren Steuergeldern leben, neue Attentate vorbereiten und die westliche Lebensweise verteufeln. Vor unserer Justiz brauchen diese Leute sich nicht fürchten.“ [1] An dieser Stelle sollte man auch auf die überwiegend deutschen Nachnamen der Leserbriefverfasser*innen verweisen: Zeiß, Rurländer, Mayerhoffer, Breuninger, Wenninger und Welker [2] … auch wenn „deutsch“ an sich schon ein umstrittenes Adjektiv ist. Was ist deutsch? Was nicht?
„Wer nichts waget, der darf nichts hoffen“
Ob „deutsche“ Rentner*innen mit akademischen Titeln überproportional viele Leserbriefe schreiben oder überproportional oft ausgewählt werden, lässt sich nur schwer sagen. Allein die Frankfurter Allgemeine erreichen täglich über 100 Leserbriefe [6] und natürlich weist jede Zeitung den Vorwurf zurück, oder macht es vielleicht auch nicht bewusst, wer weiß… Trotzdem gibt es einen Weg, die Sache ganz pragmatisch anzugehen. Die Badische Zeitung, zum Beispiel, nennt akademische Titel weder in redaktionellen Texten noch in Leserbriefen, außer die Qualifizierung ist inhaltsrelevant. [7] Denn Jurist*innen haben letztlich genauso viel Ahnung von Antikörpern wie jeder Normalsterbliche auch.
Da löst sich das zerknitterte Zeitungspapier ein bisschen von den Händen.
Du überfliegst die zweite Seite des Regionalteils: Links oben schreibt Klaus „Mit Erschrecken müssen wir zur Kenntnis nehmen…“ [2], mittig rechts meint Christian „Vielleicht hätte man die ‚Mama im Jagdfieber‘ fragen können, warum…“ [5], ganz unten schreibt Karl „Nicht nur in diesem Zusammenhang bleibt mir nur, den Dichter Friedrich Schiller zu zitieren…“ [2]. Oh nein, nicht schon wieder. Da lässt man das Lesen am Morgen dann doch lieber sein. Der Kaffee ist eh schon kalt.
Quellen:
[1] https://www.deutschlandfunkkultur.de/wir-freuen-uns-ueber-jede-zuschrift-102.html
[2] STUTTGARTER ZEITUNG, Nr. 287, Samstag/Sonntag, 11./12. Dezember 2021
[3] https://www.faz.net/hilfe/wie-unterscheiden-sich-leserbrief-und-lesermeinung-11127258.html
[4] STUTTGARTER ZEITUNG, Nr. 298, Freitag/Samstag/Sonntag, 24./25./26. Dezember 2021
[5] STUTTGARTER ZEITUNG, Nr. 281, Samstag/Sonntag, 4./5. Dezember 2021
[6] https://www.faz.net/hilfe/redaktion-lesermeinung-leserbriefe/
[7] https://bz-ticket.de/wir-muessen-reden-es-geht-auch-ohne–182301156.html
Bilder: Frida Knödler