Cocomelon – Erfolgskonzept mit Suchtpotenzial?
Von Xenia Hartlieb
Schnelle Schnitte, grelle Farben und einprägsame Melodien. Wer Kleinkinder in der Familie hat, ist bei der Auswahl einer Kinderserie wahrscheinlich schon einmal über den YouTube-Kanal Cocomelon – Nursery Rhymes gestolpert, der für Kinder zwischen zwei bis fünf Jahren Animationen zu Kinderreimen produziert. Aber was steckt eigentlich genau hinter dem Hype um die Kinderserie? Und wieso äußern zahlreiche Eltern Kritik an dem Konzept des Kanals?
Um den Erfolg des YouTube-Kanals¹ Cocomelon – Nursery Rhymes festzustellen, genügt es, einen Blick auf die Anzahl der Abonnent*innen zu werfen. Mit 176 Millionen liegt der Kanal zurzeit auf Platz 3 der meistabonnierten YouTube-Kanäle weltweit². Fast täglich werden neue Videos hochgeladen, die innerhalb weniger Tage Millionen von Aufrufen generieren. Der Kanal spezialisiere sich laut dessen Website darauf, Alltagssituationen von Kleinkindern auf unterhaltsame Weise als nachvollziehbare Abenteuer zu verpacken³. Ziel sei es, Vorschulkindern durch Lieder und Animationen beim Erlernen von Buchstaben, Zahlen und Farben zu helfen, sowie Lektionen über das Leben zu vermitteln. Wie kommt es also dazu, dass ein so erfolgreiches Kinderprogramm zunehmend kritisiert wird?
Vorwurf der Überstimmulation
Der YouTube-Kinderserie wird vermehrt vorgeworfen, das Verhalten von Kindern durch eine überstimmulierende Gestaltung negativ zu beeinflussen und sie süchtig nach den animierten Videos zu machen. Viele Eltern berichten in den sozialen Netzwerken von ihren Erfahrungen mit Cocomelon, wobei sich neben einigen positiven Kommentaren auch zahlreiche kritische Meinungen zu dem YouTube-Kanal mehren.
Die Hauptkritikpunkte der Eltern beziehen sich dabei meist auf das Suchtverhalten, das die Serie bei ihren Kindern auslöst. Videos auf der Plattform TikTok zeigen, wie Kinder bei der Intro-Melodie ganz still werden und den Bildschirm wie hypnotisiert anstarren⁴. Wenn das Programm dann ausgeschaltet wird, treten praktisch Entzugserscheinungen in Form von Wutausbrüchen und Frustration auf. Eine Person schreibt beispielweise auf Instagram: „Ich habe Cocomelon entdeckt, als mein Sohn etwa eineinhalb Jahre alt war. Schon nach einem Monat bemerkte ich, wie es mein neugieriges, spielerisches Baby so stark veränderte, dass es sich stundenlang nicht mehr vom Sofa bewegen wollte. Jedes Mal, wenn ich Cocomelon einschaltete, verhielt sich mein Kind den ganzen Tag über extrem hyperaktiv, aufgeregt und gereizt.“⁵ Berichte wie dieser werfen zurecht die Frage auf, wieso gerade Cocomelon als besonders überstimmulierend wahrgenommen wird. Dazu lohnt es sich, einen Blick auf die gestalterischen Merkmale der Serie zu werfen.
Farbliche Übersättigung
Betrachtet man die Videos von Cocomelon, sticht ein Merkmal sofort ins Auge: die knallig bunten Farben, die jedes Thumbnail und Video schmücken. Von quietschgelb bis neongrün findet sich fast das ganze Farbspektrum des Regenbogens wieder. Darstellungen mit hohen Kontrasten sind bei Babybüchern und -spielzeugen an sich keine Seltenheit, da Babys in ihren ersten Lebensmonaten nur Farben mit starken Kontrasten unterscheiden können⁶. In Bezug auf Cocomelon ist es jedoch wichtig, die Begriffe Kontrast⁷ und Sättigung⁸ zu unterscheiden: Der Kontrast beschreibt den Grad der Helligkeit von Farben, während die Sättigung sich auf die Intensität der Farbe bezieht. Nimmt man die farbliche Gestaltung von Cocomelon genauer unter die Lupe, stellt man schnell fest, dass mehr Wert auf Sättigung und weniger auf Kontrast gelegt wird. Wissenschaftliche Artikel belegen, dass solche stark gesättigten, hellen Farben nachweislich zu einer erhöhten Herzfrequenz und innerer Aufregung führen können⁹. Cocomelon verwendet solche bunten Farbvariationen zudem oft an Stellen, an denen sie eigentlich nicht notwendig wären. Dass allein das Klettergerüst aus dem „Yes Yes Playground Song“-Video ungefähr sechs verschiedene Farben hat oder die Gegenstände aus dem Video „Wheels on the Fire Truck Song“ so gut wie das ganze Farbspektrum abbilden, dient hier vermutlich nicht primär zur Sicherstellung einer besseren Erkennbarkeit, sondern dazu, die Aufmerksamkeit der Kinder durch das aufregende und spannende Farbspektakel möglichst zuverlässig an den Bildschirm zu fesseln.
Schnelle Schnitte
Neben der Kritik an der farblichen Übersättigung, sorgt auch ein weiteres Merkmal der Videos für angeregte Diskussionen: die schnellen Schnitte. Als Beispiel wird das Video „Bath Song“¹⁰ von Cocomelon genauer untersucht, das mit 6,7 Milliarden Aufrufen das beliebteste Video des Kanals ist. Betrachtet man allein den Zeitraum von Sekunde 30 bis zur ersten Minute, erfolgen innerhalb dieser 30 Sekunden insgesamt elf Schnitte. Im Durchschnitt wechselt das Bild also etwa alle drei Sekunden zu einer neuen Einstellung, die die Szene aus einem etwas anderen Winkel zeigt. Solch ein schneller Schnittrhythmus¹¹, auch Pacing genannt, wird in Filmen und Serien normalerweise nur für spannende Actionszenen verwendet, um bei den Zuschauenden ein Stressgefühl auszulösen und so das Nachempfinden der Hektik in der dargestellten Situation zu ermöglichen. Wissenschaftliche Studien legen jedoch nahe, dass schnellgeschnittene Medieninhalte negative Einflüsse auf die kognitive Entwicklung bei Kindern haben. Lillard und Peterson haben diesen Effekt in ihrer Studie „The immediate impact of different types of television on young children’s executive function“¹² nachgewiesen. Sie teilten dafür Kleinkinder in drei Gruppen auf: Die erste Gruppe schaute ein schnell-geschnittenes Fernsehprogramm, die zweite ein pädagogisches Programm und die dritte malte. Die Ergebnisse zeigen, dass Kinder, die das schnellgeschnittene Programm anschauten, danach deutlich unruhiger und ungeduldiger waren als die anderen beiden Gruppen. Dass Cocomelon für die Darstellung einer eigentlich ruhigen Tätigkeit wie des Badens also übermäßig viele Schnitte verwendet, ist somit weder notwendig noch angebracht und kann dazu beitragen, kognitive Fähigkeiten wie beispielsweise die Selbstregulierung von Kindern zu verschlechtern.
Vergleich mit nicht-überstimmulierenden Serien
Abschließend lässt sich also feststellen, dass die Kritik an Cocomelon durchaus berechtigt ist, da die übersättigte Farbgestaltung und schnellen Schnitte bei Kindern zu innerer Aufwühlung führen können. Letztendlich gilt aber wie so oft: Die Dosis macht das Gift. Gerade bei Babys und Kleinkindern ist es wichtig, grundsätzlich keinen übermäßigen Medienkonsum zu fördern, da sie sich in einer ihrer wichtigsten kognitiven Entwicklungsphasen befinden. Wer seinen Kleinkindern das ein oder andere Mal dennoch eine Kinderserie näherbringen möchte, darf das natürlich tun und muss dabei auch nicht zwingend auf überstimmulierende Programme wie Cocomelon zurückgreifen. Erfreulicherweise gibt es zahlreiche Kinderserien, die auf eine nicht-überstimmulierende Darstellung Wert legen. Dazu zählen zum Beispiel Winnie the Pooh, Weißt du eigentlich, wie lieb ich dich hab? oder Franklin – Eine Schildkröte erobert die Welt¹³. Diese Programme achten alle auf eine farb- und kontrastarme, langsam geschnittene Gestaltung sowie Inhalte mit einem moralisch-pädagogischen Mehrwert. Dadurch können Kinder auf eine angenehmere Art und Weise etwas über die Welt, wichtige Werte und soziale Beziehungen zu ihren Mitmenschen lernen.
Quellen:
¹ https://www.youtube.com/@CoComelon/videos
² Statista. (2024). Most popular YouTube channels as of February 2024, ranked by number of subscribers. https://www.statista.com/statistics/277758/most-popular-youtube-channels-ranked-by-subscribers/
³ https://cocomelon.com/pages/about
⁴ https://vm.tiktok.com/ZGebeCpHf/
⁵ https://www.instagram.com/reel/CxSUQvSrxxU/?igsh=MXJrZWRlYmZwcDZ3cg==
⁶ https://www.thebump.com/a/colors-baby-development
⁷ https://www.duden.de/rechtschreibung/Kontrast
⁸ https://www.techopedia.com/de/definition/farbsaettigung
⁹ Wilms, L., Oberfeld, D. Color and emotion: effects of hue, saturation, and brightness. Psychological Research 82, 896–914 (2018). https://doi.org/10.1007/s00426-017-0880-8
¹⁰ https://youtu.be/WRVsOCh907o?feature=shared
¹¹ https://filmdeinfilm.de/tipps-tricks/schnitt/
¹² Lillard, A. S., & Peterson, J. (2011). The immediate impact of different types of television on young children’s executive function. Pediatrics, 128(4), 644–649. https://doi.org/10.1542/peds.2010-1919
¹³ https://www.lovetoknow.com/parenting/kids/low-stimulation-shows