Visionen der 68er im digitalen Zeitalter
Von Marcel Lemmes und Ina Mecke
Wissenschaftsläden verstehen sich als unabhängige Schnittstelle zwischen akademischer Forschung und der Allgemeinheit. Wie funktioniert das in Zeiten der Digitalisierung? Und was macht die Arbeit in einem Wissenschaftsladen heute aus? Thomas von Schell und Ulrich Pöss haben uns Einblicke in den Alltag des Wissenschaftsladens Tübingen gegeben.
Es ist heiß und die Sonne strahlt an diesem Sonntag im Sommer. Die Kinder- und Jugendfarm Derendingen hat zum Familientag eingeladen. Hier, am Rande Tübingens, ist nichts vom städtischen Flair zu spüren. Stattdessen kann man hier die Seele baumeln lassen: Kinder spielen im Matsch, Eltern sitzen am Lagerfeuer und halten mit Teig umwickelte Stöcke in die Flammen. Mitten im Idyll zeigt der Biologe Ulrich Pöss vom Tübinger Wissenschaftsladen einem kleinen Mädchen wie man ein Bienen- bzw. Insektenhotel baut. Nicht nur die Kinder sind dreckig, sondern auch er ist mit Schlamm bedeckt.
Gemeinsam mit dem Mädchen befestigt er behutsam feuchten Lehm an dem Holzklotz: „Die Kinder können hier matschen und so Kontakt zur Erde bekommen. Heute Morgen hatten wir zwei Mädchen ganz in rosa da, die waren dann hinterher braun”, witzelt Pöss. Schmutzige Hosen sind aber nicht das einzige, was die Kinder mit nach Hause bringen. „Wir machen die Kinder zu Experten. Ihr Wissen tragen sie dann in die Elternhäuser,” erklärt er. Heute haben die Kinder zum Beispiel gelernt, dass Insekten heimische Blüten zum Leben brauchen. „Die moderne Gartengestaltung mit exotischen Pflanzen ist für Bienen kein Lebensraum. Das lernen die Eltern von ihren Kindern.” Nachhaltiges Wissen zu vermitteln ist die Aufgabe von Pöss und dem Tübinger Wissenschaftsladen
Ein Laden ohne Kasse
„Science Shops” gibt es seit Ende der 1970er-Jahre. Die Bewegung kommt aus den Niederlanden. Das Anliegen: Fragen aus der Bevölkerung mit wissenschaftlichen Erkenntnissen verständlich beantworten – und zwar für umsonst. Engagierte Laien und Wissenschaftler haben sich damals für mehr Transparenz und für eine verständliche Forschung eingesetzt. Die Idee kann durchaus als Nachwehen der 68er-Bewegung verstanden werden. In den frühen Jahren ging es nämlich vor allem um Umweltfragen. Das fand auch in Tübingen Anklang und so öffnete der Tübinger Wissenschaftsladen 1983 seine Pforten.
Fast von Anfang an dabei ist der Biologe Thomas von Schell. Auch für ihn waren Fragen der Nachhaltigkeit entscheidend für sein bis heute andauerndes Engagement. Die Studie „Grenzen des Wachstums” aus dem Jahr 1972 war für ihn der erste Weckruf. Damals hat die Forschungsarbeit für Aufsehen gesorgt, weil sie die Folgen der globalisierten Wirtschaft vor Augen führte: Zerstörung der Umwelt, Ressourcenmangel und Nahrungsmittelknappheit.
Ethische und ökologischen Fragen beschäftigen von Schell daher auch in den frühen Jahren des Tübinger Wissenschaftsladens: „Damals gab es in Tübingen eine heiße Diskussion über ein gentechnisches Forschungslabor, das auf der Morgenstelle in Planung war.” Informationsquellen zu solchen Themen gab es nicht. Die Folgen waren unklar, die Unsicherheit groß. Hier half der Wissenschaftsladen bei der Aufklärung. Von Schell und seine Kollegen nahmen an Podiumsdiskussionen teil, verfassten Gutachten und beantworteten Fragen aus der Bevölkerung.
Zur damaligen Zeit hatte der Laden eine breite Öffentlichkeit und ständige neue Mitglieder zu verzeichnen. Es folgten Vortragsreihen, meist zu den Themen Umwelt, Nachhaltigkeit und Technik. Neben den Vorträgen bot der Wissenschaftsladen auch damals schon Fortbildungsreihen in öffentlichen Institutionen an: „Wir waren mit unserem Programm zum Beispiel bei der Polizei. Da saßen hundert Polizisten vor uns und wir haben ökologische und technologische Themen mit denen behandelt”, erinnert sich von Schell.
Auf den Spuren der 68er
Inzwischen haben sich die Zeiten geändert: Informationen sind überall abrufbar. Auch Wissenschaftskommunikation ist heute digital: Forschernetzwerke, Blogs, journalistische Websites auf der einen, Infotainmentformate wie beispielsweise YouTube-Videos auf der anderen Seite. Sie alle liefern Antworten auf offene Fragen und versuchen, komplexe Sachverhalte zu erklären.
Dieser technische Fortschritt hat das Modell des Wissenschaftsladens vielerorts überflüssig gemacht. Neue Mitglieder blieben aus, die Anfragen wurden weniger. Besonders im Mutterland der Idee, den Niederlanden war die Entwicklung dramatisch. Die staatliche Unterstützung brach ein und ein Großteil der universitären Science Shops verschwand. Doch die Idee lebt weiter: In Tübingen gibt es noch immer Bedarf. Dort beraten die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter heute vor allem in Sachen Schadstoffe, beteiligen sich an städtischen Aktionen wie dem Tübinger Familientag und betreiben Aufklärung in Schulen und Kindergärten.
Bei solchen Veranstaltungen und Workshops liegt der Fokus oft auf „Bildung für nachhaltige Entwicklung”. Die Bildungskampagne klärt darüber auf, welche Folgen unser Handeln für die Umwelt hat und macht darauf aufmerksam, dass jeder Einzelne von uns durch nachhaltiges Handeln globale Entwicklungsprozesse beeinflusst. Der Tübinger Wissenschaftsladen trägt diese Lebenseinstellung schon an die Kleinsten heran, zum Beispiel in Kindertagesstätten.
Für Thomas von Schell ist dabei nach wie vor der Gedanke aus der Gründungszeit entscheidend, Wissen und Know-How zur Verfügung zu stellen und Aufklärungsarbeit zu betreiben. Ein bisschen Wissenschaftstheorie darf dabei in seine Augen auch nicht fehlen: „Kinder sind neugierig. Und wertfreie Forschung sollte durch Neugier getrieben sein.” Indem Kinder Fragen stellen und Antworten suchen werden sie selbst zu Forschern. „Natürlich unterscheidet sich ein richtiger Forschungsprozesse von dem, was die Kinder tun. Aber sie finden selbstständig Lösungen für Probleme und lernen auch, wo sie danach suchen können. Manchmal in der Umgebung, manchmal auch im Internet.” Von „Forschergeist” will man hier aber nicht so recht sprechen. „Das klingt immer gleich so nach Reagenzglas und Laborkittel,” findet Pöss.
Lernen für die Zukunft
Die Themen für die „kleinen Forscher” werden meist von den Erzieherinnen der Kitas vorgeschlagen: „Partizipation ist für uns ganz wichtig,” sagt Ulrich Pöss, der meist selbst bei den Veranstaltungen vor Ort ist. Eine Idee die eine Kita zusammen mit dem Wissenschaftsladen entwickelt hat, war die Aktion Waldwoche mit dem Motto „Mit allen Sinnen erleben”. Pöss war als Betreuer fünf Tage lang mit den Kindern in der Natur. Gemeinsam haben sie Insekten gefangen und darüber gesprochen, wie sie leben. „Die Kinder sind fix. Sie sehen mehr als wir Erwachsene und schleppen eine ganze Menge Käfer an – teilweise auch welche, die ich nie erwischen könnte!” Durch den Umgang mit den Tieren und die Nähe zur Natur lernen sie einiges über Insekten – und zwar viel praktischer, als aus dem Lehrbuch. Bei der Arbeit mit den Kindern spürt der Biologe: „Die haben dabei richtig Spaß!”
Zum Abschluss der Projekttage kamen die Eltern dazu. Am Lagerfeuer beim Stockbrotgrillen kommt man ins Gespräch: „Die Rückmeldungen der Eltern sind sehr positiv. Besonders, wenn sie am letzten Tag ihre Kinder voll in Aktion sehen. Dann sind sie mindestens so begeistert wie die Kleinen.” Auch die Erzieherinnen berichten immer wieder, dass die Kinder aufleben, wenn sie draußen sind. Die Begeisterung bei Erzieherinnen, Eltern und Kindern ist für Pöss ein innerer Antrieb für seine Arbeit. Und der ist auch wichtig, denn von Schell und Pöss arbeiten im Wissenschaftsladen ehrenamtlich oder nur mit geringen Honoraren. „Reich wird man damit nicht”, witzelt Pöss, „aber für mich ist der höhere Sinn des Ganzen entscheidend.” Durch Bildung für nachhaltige Entwicklung lernen die Kinder auf ihre Umwelt zu achten. Gerade das hält Pöss für wichtig: „Die Zukunft ist voller ökologischer Herausforderungen. Und mit denen müssen spätestens die Kinder einmal fertig werden.”
Der Podcast zum Tübinger Wissenschaftsladen