Wie man mit sechs Werkzeugen eine dystopische Gesellschaft erschafft

Von Antje Günther

So unterschiedlich die verschiedenen Ausgestaltungen der Dystopie über die Jahre auch waren, die Machtwerkzeuge der Herrschenden scheinen doch überwiegend die gleichen geblieben zu sein. Überwachung, Einschüchterung, ein bisschen Zuckerbrot und noch viel mehr Peitsche, so scheint es zu funktionieren mit dem Herrschen in der Dystopie. Bei näherer Betrachtung kristallisieren sich insbesondere sechs Machtwerkzeuge heraus:

Werkzeug 1 – Das Territorium

6. Artikel (2)Die Wahl des Territoriums ist entscheidend für den Erfolg einer dystopischen Gesellschaft. Das Gelände sollte gut zu überwachen sein und das Errichten von Grenzen vereinfachen. Häufig werden bereits bestehende natürliche Grenzen zum Zwecke der Abschottung instrumentalisiert. So liegt das Kapitol der Hunger Games Trilogie beispielsweise hinter den Rocky Mountains, die somit eine natürliche Abwehrbarriere schaffen. Andere „natürliche“ Grenzziehungen entstehen durch Naturkatastrophen oder weitere apokalyptische Szenarien. In der Regel werden diese Grenzen durch den Bau einer Mauer dann noch zusätzlich visualisiert, zu sehen beispielsweise in der Divergent Reihe oder in Lowrys The Giver. Die Abschottung nach außen ist dabei das wichtigste Werkzeug der Dystopie: Sie verhindert den Informationsfluss von und nach außen und schafft eine Gesellschaft, die kontrollierbar wird.

Werkzeug 2 – Überwachung und Bedrohung

Neben dem abgeschotteten Territorium ist insbesondere der allgegenwärtige Überwachungsapparat Teil einer jeden Dystopie. Der Staat muss dabei gar nicht immer überall sein, sondern vor allem das Gefühl der Omnipräsenz erwecken. Das berühmteste Beispiel bleibt dabei der Große Bruder, der in seiner Detailliertheit und Reichweite unerreicht bleibt. Die ständige Überwachung durch die Teleschirme inspirierte zahllose nachfolgende Visionen der Überwachung durch Technik. Neben der technologischen Überwachung gibt es aber auch Dystopien, die überwiegend analog arbeiten. In der französischen Jugendbuchreihe Méto werden die Kinder des Hauses beispielsweise von eingeschleusten Spitzeln überwacht. Bei einer Übertretung der Hausregeln werden sie an die Cäsaren verraten und erhalten eine Bestrafung, die in der Regel aus dem Einsperren in den Kühlraum besteht. Diese Androhung oder Durchführung von körperlichen Strafen ist ebenfalls ein wichtiges Werkzeug der Dystopie. So entsteht ein Klima der Bedrohung, das die Bürger davon abhält, sich gegen das Regime aufzulehnen.

Werkzeug 3 – Einschleusen von Spionen und das Schaffen von Misstrauen

Das Einschleusen von Informanten und Spionen hat aber noch eine weitere Funktion: Es schafft Misstrauen unter den Bürgern. Durch die Omnipräsenz des Staates und der Möglichkeit von Spitzeln kann sich niemand sicher sein, ob er nicht gerade mit einem Informanten spricht. So überwacht sich die Gesellschaft des dystopischen Staates in vielen Teilen selbst, aus Angst verraten zu werden. Dieser Mechanismus ist klar zu sehen in Orwells 1984 aber auch in neueren Dystopien wie in Rick Yanceys Fifth Wave Reihe, in der genau dieses Misstrauen auf die Spitze getrieben wird. So erschießt Protagonistin Cassie einen Soldaten, der sich später als menschlich herausstellt, einfach weil sie sich nicht sicher sein kann, ob er nicht doch ein Alien ist.

Werkzeug 4 – Kontrolle von Vergangenheit und Erinnerung

Ebenfalls ein wichtiges Werkzeug ist die Kontrolle von Vergangenheit und Erinnerung. Winstons Job im Ministerium der Wahrheit (aka Minitrue) stellt hier wiederum die bekannteste Realisierung dar. Angestellt dazu, um sogenannte „Unpersons“ aus den Geschichtsbüchern und allen anderen Aufzeichnungen zu entfernen, verdreht er die Geschichte zugunsten des Staates. Dieses Motiv findet sich auch in Lowrys Roman The Giver (1993) wieder, in dem Erinnerungen eine zentrale Rolle spielen. Lediglich der Geber und der neue Hüter der Erinnerungen können sich an die Vergangenheit erinnern und der Geber hat die Kontrolle darüber, welche Erinnerungen er weitergibt. Das Verdrehen oder Vergessen der Geschichte und insbesondere der Entstehung der eigenen Gesellschaft ist ein weitreichender Tropus der sich sowohl in der klassischen Dystopie bei 1984, Brave New World und Fahrenheit 451 finden lässt, als auch in neueren Erzählungen wie The Giver, den Hunger Games und Divergent vorhanden ist.

Werkzeug 5 – Die Beherrschung der Sprache

Ebenso wie bei der Kontrolle der Vergangenheit teilen viele Dystopien den Drang, die Sprache ihrer Bewohner zu kontrollieren. Dies beginnt meist im Kleinen mit dem Herausbilden einzelner Unwörter. In Brave New World sind beispielsweise die Ausdrücke „Vater“ und „Mutter“ verpönt, da Kinder nur noch künstlich erschaffen werden und diese Wörter somit eine rückständige Zeit symbolisieren. Darüber hinaus spielen viele Dystopien mit Euphemismen; insbesondere für Tötungsakte lassen sie sich beschönigende Worte wie befreien (The Giver) oder vaporisieren (1984) einfallen. Die umfassendste Sprachkontrolle stellt aber wiederum Orwells Newspeak dar. Newspeak vereinfacht das Standardenglisch, streicht Synonyme und Antonyme und reduziert damit den Wortschatz drastisch, sodass alternative Gedanken nicht mehr ausgedrückt werden können. Die Kontrolle der Sprache ist somit letztendlich die Kontrolle der Gedanken und des Geistes. Aus diesem Grund spielen Sprache und Literatur häufig eine große Rolle bei der Rebellion gegen das Regime.

Werkzeug 6 – Das Zuckerbrot bzw. die utopische Idee

Neben den ganzen Repressalien braucht die Dystopie aber auch einen Lichtblick, eine utopische Idee mit der sich die Strapazen der Bürger erklären und rechtfertigen lassen. Hinter jeder dystopischen Gesellschaft stand zunächst der Wunsch, eine bessere Welt zu erschaffen, sei es durch die vollkommende Gleichheit aller Bürger oder dem Auslöschen von Gewalt und Tod. Ohne diese Idee wird das System sinnlos und die Position des Protagonisten in seiner anfänglichen Unwissenheit unglaubwürdig. Über diese Grundidee hinaus bieten viele Dystopien ihren Bürgern aber noch weitere Annehmlichkeiten wie technologischen Luxus oder die Erfüllung sexueller Vorlieben. Die Dystopie muss somit gewisse Grundbedürfnisse erfüllen, um funktionieren zu können. Denn die beste Dystopie ist immer noch diejenige, in der sich die Mehrzahl der Bürger gar nicht bewusst ist, dass sie in einer solchen lebt.

Fotos: flickr.com/Jason Ilagan (CC BY-ND 2.0), flickr.com/US Geological Survey (CC BY 2.0)


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