Das Identitätsdilemma im digitalen Zeitalter

Von Valerie Heck

Nur noch sehr wenige Menschen sind nicht in mindestens einem sozialen Netzwerk wie Facebook, Instagram oder Twitter angemeldet. Es wird neben der realen eine virtuelle Welt geschaffen, in der der Mensch die Möglichkeit bekommt, sich so zu präsentieren, wie er sein möchte. Doch was bedeutet dies für die eigene Identität? Gibt es noch das eine Ich, wenn im Internet eine Vielzahl virtueller Identitäten aufgebaut werden können?

Ich – Das können viele sein

Daniela Schneider ist Aktionistin für Veganismus, die regelmäßig Beiträge und Artikel zu diesem Thema auf ihrer Facebook-Seite postet. Bei Instagram heißt sie „danispics“, ist Hobbyfotografin und veröffentlicht die schönsten Schnappschüsse aus Alltag und Urlaub. Und bei Tinder ist sie „Daniela“, die gerne kocht und sportlich ist, um mit diesen Eigenschaften die Männer in der Umgebung zu beeindrucken. Es sind drei Namen und drei Identitäten, doch eigentlich steckt nur eine Frau dahinter.

Was im realen Leben nicht denkbar ist, wird in der virtuellen Welt Wirklichkeit, denn das Internet und soziale Netzwerke ermöglichen es, in viele verschiedene Rollen zu schlüpfen oder bestimmte Facetten der Persönlichkeit in den Vordergrund zu stellen. Man spricht von „virtuellen Identitäten“ und meint damit die Art und Weise, wie Menschen sich selbst in der computervermittelten Kommunikation präsentieren. Gründe für den Aufbau von virtuellen Identitäten gibt es viele.

Zum einen geht es darum, bestimmte Eigenschaften zu betonen, um mehr Akzeptanz im virtuellen Umfeld zu erlangen. Wie Daniela, die bei Facebook ihre vegane Lebensart betont, weil viele Freunde Veganer sind. Bei Instagram stellt sie ihre aktive Seite mit Fotos von Reisen und Ausflügen in den Mittelpunkt. Bei Tinder hebt sie Eigenschaften hervor, die bei Männern gut ankommen könnten. In diesem Fall sind die Grenzen zwischen den Identitäten fließend. Zum anderen ist es durch die Anonymität in Chatrooms möglich, seine wirkliche Identität vollkommen zu verbergen und eine Tarnidentität aufzubauen. Die Person macht sich dünner, erfolgreicher oder attraktiver, um befreit von Vorurteilen und sozialem Druck ernst genommen zu werden. In diesem Fall spricht man von „Selbstmaskierung“: Es wird eine virtuelle Identität konstruiert, die sich stark von der Realität unterscheidet, um etwas ausleben zu können, was im realen Leben nicht möglich ist.

Eine selbstidealisierende Maskerade

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In sozialen Medien wie Facebook oder Instagram ist das virtuelle Ich aber nicht länger eine Maske, sondern eng mit dem Offline-Leben verwoben. Die Alltagswelt wird auf den Plattformen geprägt, wo größtenteils Freunde, Familienmitglieder und Kollegen aus der realen Welt durch Fotos, Videos und Kommentare einen Einblick in das eigene Leben bekommen. Das heißt allerdings nicht, dass die „Freunde“ oder „Follower“ in sozialen Netzwerken die eine „echte“ Identität präsentiert bekommen. Die präsentierte Person hat vielleicht Ähnlichkeit mit der Person in der realen Welt, aber heute ist nichts einfacher als sein Selbstbild im Netz mitzubestimmen oder zu idealisieren. Es geht dabei nicht darum zu zeigen, wer ich bin, sondern um die Frage „Wer könnte ich sein?“. Das Selfie wurde in den letzten zwei Jahren zur vorherrschenden Ausdrucksform dieses idealisierten Ichs, denn darin wird das reale Leben häufig wie auf einer Bühne inszeniert. Wer postet schon ein Foto, auf dem er traurig und alleine auf dem Sofa sitzt? Man zeigt sich in Situationen, in denen man etwas Positives aus dem eigenen Leben mitteilen möchte: „Ich habe etwas Leckeres gekocht“ oder „Ich habe eine wunderschöne Zeit im Urlaub“. Der Trend liegt darin, den eigenen Alltag zu überhöhen und so wird im Internet ein „besseres Ich“ bzw. eine idealisierte Identität geschaffen, die sich aus Status Updates, Fotos und Tweets zusammensetzt.

Insbesondere Kevin Systroms Plattform Instagram, bei der Fotos mit schmeichelnden Filtern verschönert und dann hochgeladen werden können, ist zum Sinnbild der öffentlichen positiven Selbstdarstellung geworden. Instagram liefert nämlich kein gnadenlos ehrliches Bild, sondern schmeichelhafte Bilder, die, laut Alex Williams von der NY Times jeden „ein bisschen jünger, hübscher und Cover-würdiger aussehen“ lassen. Nutzer präsentieren sich und ihr Leben „im Layout eines Hochglanzmagazins“. Leute, die durch das Instagram Profil scrollen, sollen wollen, was du hast. Beeindrucken und Selbstreklame ist hierbei vor allen Dingen bei jungen Leuten das Motto, egal wie die Realität dahinter aussieht.

Virtuelle Anerkennung als Existenzbeweis

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Ist der Urlaub eigentlich wirklich passiert, wenn ich kein Foto vom Strand auf meiner Instagram-Seite veröffentlicht und dazu Feedback in Form von Likes und Kommentaren bekommen habe? Hinter den Fotos, Kommentaren und Videos in sozialen Netzwerken steckt der Wunsch nach Aufmerksamkeit und Anerkennung, der eng mit der Identitätsfrage verwoben ist. Zugehörigkeit und soziale Akzeptanz sind im Kollektiv wichtig: Nur wenn ich von meinem sozialen Umfeld akzeptiert werde, bilde ich eine Identität.

Der Alltag wird immer mehr vom Nachrichtenstrom in den sozialen Netzwerken bestimmt. Mit Tweets und Instagram-Fotos wird das eigene Dasein bewiesen, denn wer nicht postet, hört auf, zu existieren. Jürgen Fritz, Professor am Institut für Medienforschung und Medienpädagogik in Köln, schreibt, dass Aufmerksamkeit die Essenz sei, die die virtuelle Welt mit Leben füllt und die Interaktionen ermöglicht. Über Posten wird eine eigene Relevanz geschaffen.

Mit dieser Erkenntnis wird die am Anfang gestellte Frage, ob es überhaupt noch das eine Ich gibt, wenn im Internet eine Vielzahl virtueller Identitäten aufgebaut werden, fast hinfällig. Wer ich bin wird durch das virtuelle Umfeld bestimmt und damit stellt sich die Frage: Gibt es überhaupt noch eine Identität außerhalb der virtuellen Welt?

Fotos: flickr.com/Zlatko Vickovic (CC BY 2.0), flickr.com/Kroejsanka Mediteranka (CC BY-NC-ND 2.0)