Kultur im Netz – Ein Spannungsfeld: Gesellschaftskritik um Gangnam-Style

von Stefan Reuter

Ballermann war gestern, die Sommerhits von heute werden im Netz geboren. Der Preis für den unwahrscheinlichsten Chartbreaker 2012 geht an den südkoreanischen Rapper PSY. „Gangnam Style“ ist ein Lehrstück in Sachen globalem Pop. Die eigentliche Bedeutung des Songs wird dabei oft vernachlässigt.

Von Gangnam ins Guiness Buch

„Words cannot even describe how amazing this video is…“ Das twitterte der amerikanische Sänger T-Pain Ende Juli über das knapp zwei Wochen zuvor veröffentlichte Video des Südkoreaners PSY. Tatsächlich bietet „Gangnam Style“ einiges an Schauwert: Abgefahrene Outfits, Explosionen, umherwirbelnder Schnee und – natürlich – hübsche Frauen. Mittendrin sitzt PSY mit heruntergelassener Hose auf der Toilette und plantscht in einem Pool. Selbstverständlich wird auch getanzt, egal ob in einem Bus, in einem Pferdestall oder auf dem Zebrastreifen. Die Choreografie erinnert an eine dadaistische Kreuzung aus Saturday Night Fever und Westernreiten, ist also schräg und einprägsam. Ganz, wie es sich für den Tanz eines Sommerhits gehört. Dass Menschen außerhalb Südkoreas neben „Eh sexy Lady!“ wohl kein Stück des Textes verstehen, stört nicht. Skurrilität, Eingängigkeit und ein markanter Beat – so schaffte PSY es mit über 300 Millionen Likes zum beliebtesten Video auf YouTube. Und damit in das Guiness Buch der Rekorde. Dieser enorme Erfolg brachte PSY und seinem Tanzstil neben prominenten Fans und Nachahmern, wie Katy PerryBritney Spears oder Googles ehemaligem CEO Eric Schmidt, auch Parodien ein. Egal ob Han Solo, Gandalf oder Obama – niemand ist sicher vor dem Gangnam-Style.

Ein Hit und seine Bedeutung

Hinter der lustigen Fassade steckt allerdings ein kritischer Kommentar zur südkoreanischen Gesellschaft. Gangnam ist ein Viertel in Südkoreas Hauptstadt Seoul, das besonders für sein Nachtleben bekannt ist. Durch stadtplanerische Eingriffe in den 80ern – wie der Verlegung einiger wichtiger Bildungseinrichtungen dorthin – wurde aus dem ursprünglich landwirtschaftlich genutzten Gebiet ein schillerndes Lifestylezentrum. Hier liegt die Wurzel der Kritik, die an diesem Viertel und seinen Bewohnern geäußert wird. Bloggerin Jea Kim erklärt:

For most Koreans are fed up with all those „nouveaux riches“ in Gangnam who became rich because of their real estate values skyrocketed „overnight“. The haves in Gangnam are so materialistic and philistine that they hardly have a real organic relationship with the world outside Gangnam, let alone a sense of noblesse oblige. Just as much people outside Gangnam admire their wealth, status, and lifestyle, they misunderestimate and look down on the outsiders.

Hier setzt auch PSYs satirischer Kommentar zum Leben in Gangnam an. Er stammt selbst aus diesem Viertel und weiß, wovon er singt. In den Lyrics des Liedes geht es um ein stilvolles Mädchen, dass die Freiheit, die eine Tasse Kaffee bedeutet, genießt. Jea Kim verdeutlicht, was es damit auf sich hat:

In Korea, there’s a joke poking fun at women who eat 2,000-won (about $2) ramyeon (Korean style ramen) for lunch and then unstintingly spend over 6,000 won (about $5,30) on Starbucks coffee. […] Such crazes were believed to be inspired by HBO’s „Sex and the City“ in which the designer stuff-obsessed women frequently meet together to talk over brunch or coffee. But clearly, that you can afford a relaxing cup of „Starbucks“ coffee doesn’t make you classy.

Unter der Hochglanzoberfläche von „Gangnam Style“ versteckt sich also eine bissige Analyse von Seouls oberen Zehntausend. PSY hält ihnen einen Spiegel vor und entlarvt ihren Lebensstil als lächerliche und oberflächliche Selbstinszenierung.

PSY featuring Justin Bieber?

Diese Doppeldeutigkeit offenbart sich bereits in der ersten Szene des Videos: Scheint es zunächst so als läge PSY am Strand, zeigt sich bald, dass er sich lediglich auf einem Spielplatz befindet. Damit verdeutlicht er den Geltungsdrang der Einwohner Gangnams. Im Making-Of des Videos äußert der Künstler, der in Boston Musik studierte, seine Kritik recht explizit. Der südkoreanische Menschenrechtler Adrian Hong erklärt in einem Artikel in The Atlantic:

‚Human society is so hollow, and even while filming I felt pathetic. Each frame by frame was hollow,‘ he [PSY] sighs, apparently deadly serious. It’s a jarring moment to see the musician drop his clownish demeanor and reveal the darker feelings behind this lighthearted-seeming song. Although, Hong noted, ‚hollow‘ doesn’t capture it: ‚It’s a word that’s a mixture or shallow or hollow or vain,‘ he explained.

Angesichts solcher Aussagen wirkt es geradezu ironisch, dass PSY Top-Platzierungen in den Charts weltweit einfahren konnte. In seiner Heimat, den USA und dem Vereinigten Königreich steht er schon ganz oben, und auch in Deutschland könnte er die Poleposition erobern. Inzwischen hat er einen Vertrag mit Island Records unterschrieben, der Plattenfirma, die auch ein gewisses kanadisches Internetphänomen betreut. Es ist fraglich, ob PSY seine Subversivität behalten wird, sollte demnächst  „Hollywood Style featuring Justin Bieber“ die Charts stürmen.

Fotos: flickr/KOREA.NET – Official page of the Republic of Korea (CC BY-NC-ND 2.0), ders. (CC BY-NC-ND 2.0)

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